
2015 versammelten sich in Dresden bei der rechten Pegida-Demonstration tausende Menschen, um gegen die Asylpolitik zu protestieren.Bild: imago stock&people / Christian Ditsch
Deutschland
Vor fünf Jahren wurden Orte in Sachsen zum Synonym für Rassismus. Proteste vor Asylunterkünften und Anschläge auf Flüchtlingsheime zeigten eine hässliche Fratze. Doch es gab es auch eine andere Seite.
15.08.2020, 19:1516.08.2020, 09:37
Wer im Sommer 2020 an
frühere Schauplätze der sogenannten Flüchtlingskrise in Sachsen
reist, findet kaum auskunftsfreudige Anwohner. Die meisten wollen
wohl nicht an das erinnert werden, was anderswo in Deutschland für
Fassungslosigkeit und Scham sorgte. Eine pöbelnde Menge, die
Flüchtlinge vor ihren Unterkünften mit "Haut ab!"-Rufen empfing.
Rechtsextreme, die Asylheime angriffen und Andersdenkende
attackierten. Menschen, die Politiker auf üble Weise beleidigten und
ihrem Hass auf Asylbewerber nicht nur in Sozialen Medien freien Lauf
ließen.
Die Stimmung war aufgeheizt, immer wieder kam es zu Zwischenfällen.
In der Berichterstattung wurde mitunter ein ganzes Bundesland in
Mithaftung genommen. "Allmählich fragt man sich, was mit den Sachsen
nicht stimmt", leitete die "Spiegel TV"-Moderatorin Maria Gresz am
22. Februar 2016 einen Beitrag über Clausnitz ein. In dem kleinen
Erzgebirgsort hatten Anwohner die Zufahrt zu einem Asylheim blockiert
und Flüchtlinge gar nicht erst aus dem Bus aussteigen lassen wollen.
Später wollte keiner mehr mit Reportern über die Ereignisse reden.
Auch in Heidenau, wo am 21. August 2015 Krawalle vor einem zum Camp
umgestalteten Baumarkt begannen, ist man fünf Jahre danach wortkarg.
Oberbürgermeister Jürgen Opitz (CDU) möchte keine Interviews geben,
um nicht alte Wunden aufzureißen, heißt es im Rathaus.
Am Anfang war Pegida
Die Demonstrationen gegen Flüchtlinge kamen in Sachsen nicht über
Nacht. Die islam- und ausländerfeindliche Pegida-Bewegung um ihren
mehrfach vorbestraften Frontmann Lutz Bachmann hatte Proteste schon
im Herbst 2014 in Dresden in die bürgerliche Mitte getragen. Auf dem
Höhepunkt der Bewegung liefen Bachmann 25 000 Menschen hinterher.
Selbst als sich im Januar 2015 ein Teil der Pegida-Mitstreiter
abwandte, blieb das Gros der Anhänger bei Bachmann, den der
Verfassungsschutz mittlerweile als Rechtsextremisten bezeichnet.

Auch durch Chemnitz zog 2015 die Pegida-Bewegung.Bild: imago stock&people / HärtelPRESS
Danach ging es in Freital weiter. Stadträtin Ines Kummer (Grüne) hat
die erste große Demonstration gegen Flüchtlinge im März 2015 noch gut
im Gedächtnis: "Da zogen 1500 Menschen durch die Stadt. Das war
beängstigend und erschreckend gleichermaßen." Bis zu diesem Zeitpunkt
habe sie nicht wahrhaben wollen, dass eine so große Menge gemeinsam
mit Nazis marschiert:
"Pegida hat dazu geführt, dass rassistische und menschenverachtende Einstellungen ein Stück weit Normalität wurden."
Freitals parteiloser Oberbürgermeister Uwe Rumberg meint, die Stadt
sei mit Einrichtung einer Erstaufnahme für Flüchtlinge im früheren
Hotel Leonardo mitten in einem Wohngebiet überrumpelt worden. Die
Konflikte seien programmiert gewesen, spätestens als die Bewohner im
Fastenmonat Ramadan die Nacht zum Tag machten. Rumberg hat
Verständnis für die Anwohner, die sich vom Trubel genervt fühlten:
"Da war plötzlich nichts mehr so wie früher." Es habe Ängste und
Bedenken gegeben, aber auch ein Willkommensbündnis für Flüchtlinge.
Nach den Protesten und späteren Gewalttaten sei eine mediale Welle
über Freital hereingebrochen, unter der man bis zum heutigen Tag zu
leiden habe, sagt Rumberg. Seine Stadt blieb auch durch die Gruppe
Freital in den Schlagzeilen. Sieben Männer und eine Frau wurden 2018
für die Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung und
Straftaten wie Sprengstoffanschläge zu langen Haftstrafen verurteilt.
"Ich habe mich fremdgeschämt"
Ines Kummer will Konflikte im Zusammenhang mit der Unterbringung
Geflüchteter im Hotel Leonardo nicht beschönigen: "Es war aber klar,
dass sich eine humanitäre Katastrophe abzeichnete." Die Proteste
gegen Asylunterkünfte in Sachsen seien ihr wie ein Flächenbrand
vorgekommen: "Da kamen erschöpfte Menschen mit Bussen an und wurden
auch am Leonardo mit Sprechchören wie "Ausländer raus!" empfangen.
Ich habe mich fremdgeschämt. Dass es eine solche Empathielosigkeit
gab, hatte ich nicht für möglich gehalten."
Kummer gehörte damals zu dem Willkommensbündnis, das es vielerorts in
Sachsen gab. Das Engagement der Freiwilligen geriet angesichts der
hässlichen Bilder in den Hintergrund. Kummer erlebte brenzlige
Situationen, hatte Angst abends auf der Straße zu ein: "Es gab
Morddrohungen am Telefon, ich wurde auf der Straße beschimpft.
Nachdem ich bei Maybrit Illner aufgetreten war, häuften sich
hassvolle Mails. Ich galt als Nestbeschmutzerin. Dabei haben wir nur
versucht, Freital den Arsch zu retten und Humanität zu zeigen."

Vor einer Asylunterkunft in Freital kam es 2015 immer wieder zu Protesten.Bild: imago stock&people / epd
AfD als politischer Profiteur
Die Saat des Sommers 2015 ging nachher in unterschiedlicher Weise
auf, als Hass im Netz oder in Form einer zunehmenden Ablehnung des
demokratischen System. Im politischen Umfeld vermochte die AfD von
der Migrationskrise zu profitieren. Sie zog 2014 mit 9.7 Prozent der
Zweitstimmen in den Landtag ein und konnte das Ergebnis fünf Jahre
später nahezu verdreifachen (27.5 Prozent). "Inzwischen ist die AfD
das Sprachrohr des Protestes und zu einer Sammlungsbewegung für
Menschen nationalkonservativer, rechter oder rechtsextremer
Einstellungen geworden", sagt der Politologe Hans Vorländer.
Der Dresdner Historiker Mike Schmeitzner, Professor am
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung der TU Dresden,
sieht Parallelen zwischen den Demonstrationen von 2015 und aktuellen
Corona-Protesten. Einige der heutigen Demonstranten wären auch damals
auf die Straße gegangen: "Jetzt hat sich das aber weiter
ausdifferenziert. Damals ging es um die Asylpolitik. Heute ist das
Spektrum der Protestierer breiter."
Schmeitzner spricht von einem teils verfestigten Milieu: "Das sind
Menschen, die sich in ihrer Grundkritik am "System" festgelegt zu
haben scheinen. Die lassen sich nur schwer davon abbringen. Teile der
Mitte haben sich stärker mit den Rändern verknüpft." Der Forscher hat
in den vergangenen Jahren ein Auseinanderdriften der Gesellschaft
beobachtet. Im Osten seien Entwicklungen wie die Flüchtlingskrise
anders wahrgenommen worden als im Westen. "Wir haben hier einen
anderen Resonanzboden", sagt Schmeitzner und verweist auf Brüche
vieler Ostdeutscher mit Jobverlust und Zukunftsängsten.
Linke-Politikerin Juliane Nagel, die regelmäßig im Parlament die
Situation Geflüchteter in Sachsen erfragt, registriert zwar einen
spürbaren Rückgang bei Angriffen auf Asylbewerber und ihre
Unterkünfte: "Rassistische Stereotype blieben dennoch in der
Bevölkerung stark verankert. Die Betroffenen haben heute weniger mit
Gewalt zu tun, sondern mit Alltagsrassismus."
(lau/dpa)