In Halle an der Saale wollte der Rechtsextremist Stephan B. am Mittwoch in einer Synagoge laut Ermittlern ein "Massaker" mit weltweiter Wirkung anrichten. Als der Angreifer an der Tür des Gotteshauses scheiterte, erschoss er vor dem Gebäude eine Frau – und später in einem Döner-Imbiss einen Mann.
Auf seiner Flucht verletzte B. zwei weitere Menschen, bevor er am Mittwochnachmittag festgenommen werden konnte. Die Behörden gehen von einem Terroranschlag aus.
Ein Überblick über die neun wichtigsten Fragen.
Bei dem Täter handelt es sich laut Bundesanwaltschaft um den 27-jährigen Stephan B. aus Eisleben, der zuvor nicht als Rechtsextremer aufgefallen war. Bei der Durchsuchung der Wohnung des mutmaßlichen Synagogen-Attentäters, in der er mit seiner Mutter gelebt haben soll, sind nach Angaben der Bundesanwaltschaft Beweismittel sichergestellt worden.
Einsatzkräfte nahmen B. am Mittwochnachmittag auf der Bundesstraße 91 südlich von Halle fest, nachdem er sich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert hatte. Bei einem Schusswechsel wurde der Rechtsextremist am Hals verletzt. Nach seiner Festnahme wurde er in zwei Krankenhäusern behandelt.
Am späten Donnerstagnachmittag wurde B. per Hubschrauber nach Karlsruhe gebracht. Dort wurde er dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof vorgeführt, der Haftbefehl gegen B. erließ.
Die Bundesanwaltschaft wirft B. zweifachen Mord und versuchten Mord in neun Fällen vor.
Der Täter von Halle hatte vor der Tat in einem elf Seiten langen "Manifest" auf Englisch seine Gedanken dargelegt. "Es kam immer wieder zu Streit, meine Meinung zählte nicht. Ich komme nicht mehr an ihn ran", sagte der Vater des mutmaßlichen Täters der "Bild". Und er fügte hinzu: "Er war weder mit sich noch mit der Welt im Reinen, gab immer allen anderen die Schuld."
Demnach ließen sich die Eltern scheiden, als der mutmaßliche Täter 14 Jahre alt war. B. habe Abitur gemacht, zwei Semester Chemie studiert, sein Studium aber wegen einer schweren Operation abbrechen müssen.
Bei seiner Befragung vor dem Richter habe er erklärt, dass er alleine gehandelt habe. Auch seine Waffe stellte er selbst her. Jedoch habe er einmal von einer ihm unbekannten Person, mit der er im Internet kommuniziert habe, 0,1 Bitcoin erhalten. Das wären aktuell etwa 750 Euro, schreibt der Spiegel.
Bei der Frage nach dem Motiv des Täters von Halle stützen sich die Ermittler derzeit vor allem auf das mutmaßliche Bekennervideo sowie das online veröffentlichte "Manifest".
Der Text liest sich stellenweise wie die Anleitung zu einem Computerspiel, in dem Dokument wimmelt es vor antisemitischen Begriffen. Darin schreibt der mutmaßliche Täter auch, er habe zunächst eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum attackieren wollen, sich dann aber entschieden, so viele Juden zu töten wie möglich.
Und aus dem Schreiben wird auch klar: Stephan B. leugnete den Holocaust, wütete gegen Feminismus. Aus seiner Sprache lässt sich Experten zufolge ableiten, dass er recht intensiv in einer englischsprachigen, rechten Internetszene unterwegs war.
Die Behörden gehen davon aus, dass B. ein Einzeltäter ist, der antisemitische und rechtsextremistische Motive für seine Tat hatte. Es werde ausgeleuchtet, mit wem B. Kontakt hatte, sagte Innenminister Horst Seehofer (CSU).
Im Fokus der Ermittler steht derzeit, "ob Personen in die Vorbereitung oder Durchführung des Anschlags eingebunden waren oder im Vorfeld Kenntnis hiervon hatten", wie die Bundesanwaltschaft am Donnerstagabend erklärte.
Bisher fehlten "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" dafür, dass der Beschuldigte an eine rechtsterroristische Vereinigung angebunden gewesen sei oder ein sonstiger Zusammenhang mit einer solchen Vereinigung bestehe.
In der ZDF-Talksendung von Maybrit Illner erklärte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) am Donnerstagabend, dass offenbar kein Sicherheitsorgan den Tatverdächtigen B. "im Rahmen des normalen Systems" auf dem Schirm gehabt habe.
Vor der Synagoge tötete der Träger der Helmkamera offenbar eine 40-jährige Frau aus Halle, die ihn zuvor im Vorbeigehen angesprochen hatte. Danach fuhr er weiter zu einem Imbiss, zündete dort einen Sprengsatz, schoss in Richtung mehrerer Menschen, die teilweise verletzt wurden. Dann tötete der Angreifer einen 20-jährigen Mann, der aus Merseburg stammen soll.
Der mutmaßliche Täter scheint beide Todesopfer zufällig ausgewählt zu haben, dies ist aber nicht bestätigt. B. floh laut Polizei nach den Morden mit seinem Auto, ließ dieses aber dann im Ort Landsberg stehen, wo er ein Taxi kaperte. In Landsberg schoss er auch auf ein Ehepaar (40 und 41), die beide mit Schussverletzungen ins Krankenhaus kamen.
Ursprünglich wollte B. den Ermittlern zufolge ein "Massaker" in der Synagoge von Halle anrichten. Ihm gelang es jedoch nicht, durch die versperrte Tür zu den rund 50 Menschen zu gelangen. Die Menschen aus der Synagoge wurden am Mittwoch zunächst mit Bussen in ein Krankenhaus gebracht.
Der Täter hatte in den sozialen Netzwerken ein Bekennervideo hochgeladen. Ausgestattet mit einer Helmkamera zeigt das knapp 36 Minuten lange Video den Ablauf der Tat aus der Perspektive des 27-Jährigen – von der vergeblichen Erstürmung der Synagoge über die tödlichen Schüsse bis zur Flucht. Das Video diente den Ermittlern auch zur Rekonstruktion des Ablaufs der Tat.
Hochgeladen wurde das Live-Video zunächst auf der Plattform Twitch. Twitch ist eine US-amerikanische Plattform zum Streamen von Videos, meist übertragen die Nutzer dort Online-Games. Sie gehört zu Amazon und ist mit 8,5 Millionen Usern täglich eine der meist besuchten Portale für gestreamte Videos, schreibt die "FAZ".
Jeder, der auf der Plattform angemeldet ist, kann einen Livestream starten. Ohne Follower, wie es beim Täter von Halle der Fall war, ist die Reichweite sehr gering. Jedoch wurde das Video danach gespeichert. Bis das Video von Nutzern gemeldet wurde, hatten es laut Twitch etwa 2200 Menschen gesehen.
Es wird davon ausgegangen, dass die Nutzer gezielt danach gesucht hatten, weil es auf keiner Empfehlungsliste gestanden haben soll. Hochgeladen wurde das Video in der Kategorie "Ego-Shooter".
Twitch entschuldigte sich umgehend nach der Tat auf Twitter.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übermittelte am Mittwoch den Angehörigen den Opfern ihr Beileid. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur, schrieb Regierungssprecher Steffen Seibert auf Twitter.
Am selben Abend nahm Merkel an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin teil. Sie brachte im Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ihre tiefe Betroffenheit über den antisemitischen Anschlag zum Ausdruck, wie eine Regierungssprecherin mitteilte. Die weltweite Bestürzung über die Tat ist groß. An diesem Freitag sind in Halle weitere Gedenkveranstaltungen geplant.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte den Tatort und forderte eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus. Die Bundesregierung garantierte am Tag nach dem Anschlag der jüdischen Gemeinde dauerhaft Schutz und Sicherheit. Innenminister Horst Seehofer (CSU) versprach in Halle, "dass die Juden in unserem Land ohne Bedrohung, ohne Angst leben können".
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprach von einer "neuen Qualität des Rechtsextremismus".
Schuster sagte am Donnerstag: "Ab sofort wird nachhaltig ein Polizeischutz für die jüdischen Einrichtungen in Halle, Dessau und in Magdeburg erfolgen." Er habe die Zustimmung des Ministerpräsidenten und Innenministers Sachsen-Anhalts dafür bekommen.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte der AfD am Donnerstagmorgen im Bayerischen Rundfunk eine Mitverantwortung an der Tat gegeben. Auch Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht kritisierte mit Blick auf die AfD die politischen Auseinandersetzung im Parlament. Diese gleiche zum Teil im Duktus dem NS-Sprachgebrauch.
Innenminister Seehofer schloss sich dieser Meinung an. Auf eine Reporterfrage zu den Äußerungen sagte Seehofer am Donnerstag: "Was die geistige Brandstiftung betrifft, sehe ich das genauso wie die von Ihnen zitierten Parteifreunde."
Die Synagoge in Halle war zum Tatzeitpunkt am Mittwoch nicht von Polizisten geschützt – wie es in Großstädten üblich ist. Diesen Umstand nannte Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, "skandalös".
Und weiter: "Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt." Mit Blick darauf, dass am vergangenen Freitag in Berlin ein Mann mit Messer vor einer Synagoge gestoppt wurde, appellierte Schuster zudem an strengeres Vorgehen der Justiz nach Angriffen und Angriffsversuchen.
Sachsen-Anhalts Innenminister Stahlknecht wehrte sich gegen Vorwürfe des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle, wonach die Polizei am Mittwoch zu langsam auf die Bedrohungslage reagiert hätten. Zwischen Eingang des Alarms bei der Polizei in Halle und dem Eintreffen der Beamten vor Ort seien lediglich sieben Minuten vergangen.
Kritik an einem zu langsamen Eingreifen der Polizei wies auch Oliver Malchow, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft, im ZDF zurück. "Dieser Fall zeigt uns, wie dünn die Polizeidecke ist. Da hält niemand sich zurück und will abwarten, was sich vor Ort weiter ergibt, sondern da wird sofort alles in die Gänge gesetzt." Aber ein Eingreifen sei "höchstwahrscheinlich nicht schneller möglich" gewesen.
Im benachbarten Leipzig verstärkte die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge. Auch vor der Synagoge in Dresden wurde nach Angaben der Polizei der Schutz erhöht. In anderen deutschen Städten wurde der Schutz ebenfalls entsprechend verstärkt.
(lin/pb/hd/dpa)