Sechs Millionen Menschen leben in Deutschland von Hartz IV – die ARD-Dokumentation "Der Hartz IV-Report" versuchte am Montagabend herauszufinden, wie Menschen in die verzweifelte Situation geraten, von dem Arbeitslosengeld abhängig zu sein.
Die Macher der ARD-Dokumentation hatten vor allem jene 4,2 Millionen Leistungsempfänger im Blick, die arbeiten könnten, aber keine Arbeit haben.
Im Zentrum des Films stehen mehrere Protagonisten, die aus ihrem Leben berichten. Die Geschichten zeigen auch vier zentrale Probleme des Hartz-IV-Systems auf.
Da ist zum einen die ungelernte Kassiererin Martina Trögel aus Gießen. Mit 37 verlor sie ihren Job, zwei Krankenfälle in der Familie verschärften die finanzielle Situation der Frau aus NRW. Einen neuen Job will Martina nicht, sie will ihre 20 Stunden bei einer 1-Euro-Maßnahme behalten.
Trögel sagt: "Hartz IV ist nochmal ne Nummer schlimmer wie Sozialhilfe früher." Trögel ist für ihre Job-Centerin, die 90 Langzeitarbeitslose betreut, kein Einzelfall. Sie sagt der ARD: "Viele wissen ganz oft, was sie nicht wollen."
Sie meint: "Die stehen sich oft im Weg, weil sie nicht benennen können: 'Wo soll die Reise jetzt hingehen.'" Der Aufbau einer Perspektive für diese Menschen sei oft schwer. Trögel selbst hat aufgegeben. "Chancen für die Zukunft, einen gewissen Arbeitsplatz zu bekommen, sehe ich eigentlich nicht."
Die wachsende Konjunktur und das Absinken der Arbeitslosenquote: Als das hatte keine Auswirkungen auf Trögel.
Jens Romba ist kein Einzelfall: Der Chemiker mit Doktortitel zählt zu den vier Prozent der Hartz-IV-Empfängern mit akademischen Abschluss, die keinen Job finden. Er sucht seit 15 Jahren einen Job.
Romba hat Startprobleme bei neuen Herausforderungen: "Ich muss mich in viele Dinge erstmal einarbeiten." Einfach irgendwo anfangen, ein Arbeitgeber, der Romba Zeit zur Eingewöhnung schenkt – das hat Romba bislang nicht gefunden. Auch Weiterbildungen hätten ihm keinen Job gebracht – er sei aufgrund seiner Persönlichkeit nicht geeignet.
Monika Kessler vom Jobcenter Gießen meint dazu: "Der akademische Abschluss ist letztlich nicht das, was kriegsentscheidend ist." Bei Rombas Lebenslauf fehle die "durchgehende Berufstätigkeit".
Romba ist Teil eines harten Kerns: In den letzten Jahren stieg der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Hartz-IV-Empfängern von 42 auf 48 Prozent – immer mehr kommen einfach nicht in den Job zurück.
Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kritisiert das Arbeitslosengeld: "Die große Schwäche ist für mich, dass Hartz IV nicht genug fördert." Der Staat müsse den Menschen Chancen eröffnen. Job-Centern müssten sich verbreitern, auch die soziale Perspektive der Arbeitslosen in den Blick nehmen.
Auch Kathrin Wißner ist von der Langzeitarbeitlosigkeit betroffen: Vor 16 Jahren verlor die gelernte Verwaltungsfachangestellte ihren Job, nachdem sie an Depressionen erkrankt war. Die Hilfe von den Ämtern habe sie als Bedrohung wahrgenommen. Wißner erinnert sich: "Ich wurde behandelt wie Dreck."
In der Zeit habe sie sich körperlich gehen lassen: Irgendwann habe sie nur noch einmal die Woche geduscht. Es folgten Essstörungen und Selbstmordgedanken.
Heute spricht die Frau erstaunlich offen über ihre Qual mit der Langzeitarbeitslosigkeit. Mit ihrer Initiative Jobcenter-Watch weist sie auf Missstände in deutschen Arbeitsagenturen hin.
Auch andere Langzeitarbeitslose berichten von negativen Erfahrungen in Jobcentern – eine ältere Langzeitarbeitslose berichtet: "Ich hab über 700 Bewerbungen geschrieben, nur Absagen gekriegt." Der früheren Chefsekretärin war irgendwann klar: "Im Büro will dich niemand mehr haben."
In einem Bewerbungsgespräch habe man ihr gesagt: "Sie sind für die Rente zu jung, und zum Arbeiten zu alt."
Bei Alleinerziehenden liegt die Armutsquote bei rund 30 Prozent – auch Claire Funke, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, hat Angst vor der Armut. Bisher hat die gelernte Sozialarbeiterin immer in befristeten Jobs gearbeitet. Dann blieb irgendwann die Stelle aus, die sie mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbaren konnte.
Funke lebte sechs Monate lang von Hartz IV. Sie erzählt: "Ich war total verzweifelt." Auch Wut habe sie verspürt, weil der Unterhalt des Vaters der Kinder ihr als Einkommen angerechnet wird. So kommt am Monatsende noch weniger Geld in die Familienkasse. Funke: "Man spürt die Armut ja schon daran, dass man sagen muss: 'Jetzt gibt's das Eis im Schwimmbad eben nicht mehr."
Schon als beruftstätige Alleinerziehende habe Funke ihren Kindern keinen Urlaub finanzieren können. Jeder sechste Deutsche ist heute von Armut betroffen – besonders oft Frauen und Kinder. Der Forscher Marcel Fratzscher meint: "Das zeigt, dass die Armutssystem – und auch Hartz IV – eigentlich gescheitert sind."
Der Wirtschaftswissenschaftler Lars Feld schwächt dieses Urteil in der Dokumentation ab: Hartz IV habe sich vor allem für die Mittelschicht zur Bedrohung entwickelt, die früheren Sozialhilfeempfänger hätten durch die Hartz-IV-Sätze Mehreinnahmen verbuchen können.
Die Dokumentation zeichnet auf, wie der Niedriglohn-Sektor in Deutschland durch die Einführung von Hartz IV gewachsen ist. Auch Claire Funke, die derzeit einen 450-Euro-Job hat, meint: "Auf die Dauer wird's schwierig werden. Dann sind meine Kinder trotzdem arm – trotz Erwerbsarbeit." Weil Kindergeld und Unterhalt als Einkommen angerechnet werden, bekommt sie weiterhin Wohngeld. Mit dem Mini-Job bekommt Funke genauso viel wie noch zu Hartz-IV-Zeiten. Sie sagt: "Arbeiten muss sich so lohnen, dass jede Arbeit existenzsichernd ist."
Verschiedene Ideen zur Reform von Hartz IV liegen auf den Tisch. In einem Papier hatte die SPD Anfang des Jahres den Abschied von Hartz IV verkündet. Ein Bürgergeld soll die Grundsicherung ersetzen, Sanktionen sollen teilweise abgeschafft werden. Auch ein "passgenaues Angebot auf Weiterbildung/Qualifizierung" will die SPD entwickeln.
Auch die Grünen wollen die Abkehr von Hartz IV. Im Kern sieht das Modell vor, die Sanktionen abzuschaffen und die Grundsicherung durch ein "Garantiesystem" zu ersetzen.
So lebhaft die Diskussion um Hartz aber noch Ende 2018 bis Anfang 2019 war – mittlerweile hat sich die Debatte verlaufen. Die Union hält weiter am Hartz-IV-System als Erfolg fest, die SPD sucht einen neuen Parteivorstand. Bis auf weiteres ist eine Reform daher nicht in Sicht.
Wirtschaftswissenschaftler Fratzscher meint in der ARD-Doku ohnehin: "Die Abschaffung von Hartz IV wird das Problem nicht lösen."
(pb)