In seiner letzten Sendung vor der Sommerpause wollte "Hart aber fair"-Moderator Frank Plasberg eigentlich über den Ausnahmezustand in den USA sprechen. Doch "der größte Corona-Ausbruch in Europa" in der Großschlachterei von Clemens Tönnies in Gütersloh ließ die Redaktion umplanen.
"Massenerkrankung in Fleischfabrik – Gefahr fürs Land?", lautet am Montagabend in der ARD stattdessen das Thema. Plasberg spricht von einer "Region in Zorn und Furcht" und nennt den Auftritt von Firmenchef Tönnies vor Kameras, wo er eine Reformation der Schlachtindustrie forderte, ein "Meisterstück an Scheinheiligkeit".
1553 der 7000 Mitarbeiter sind infiziert, das ist der aktuelle Stand am Montagabend. Und es ist höchst wahrscheinlich, dass die Infektionen durch strukturelles Fehlverhalten entstanden sind.
Ein Pfarrer, der Arbeiter der Fleischindustrie betreut, wird in der Sendung scharf mit der Branche ins Gericht gehen. Zuvor aber diskutieren SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann von der CDU über die Maßnahmen im Kreis Gütersloh.
NRW-Regierungschef Armin Laschet (CDU) betont derzeit, dass der Ausbruch ja auf die Firma Tönnies beschränkt sei. SPD-Corona-Experte Lauterbach geht jedoch davon aus, dass der Virus schon vier bis acht Wochen in der Region unterwegs sei. Die Landesregierung beschränke jedoch die Corona-Tests nur auf die Tönnies-Mitarbeiter und gebe sich der Hoffnung hin, dass es neben den Mitarbeitern kaum Fälle im Landkreis gebe.
"Es wäre eine Überraschung, wenn es nicht stark übergesprungen wäre", findet Lauterbach. Besonders Sorgen machen ihm die Sommerferien. Dann könnten viele Familien aus dem betroffenen Landkreis das Virus beim Urlaub über ganz Deutschland verteilen. Für eine Urlaubssperre sei er noch nicht. Er rät in der Sendung "eine Woche testen und dann sehen".
NRW-Gesundheitsminister Laumann macht einen noch bedröppelteren Eindruck als sonst. Er ist sehr bedacht darauf, zu vermitteln, dass er alles tut, um die Situation in den Griff zu bekommen. 7000 Leute hätten sie in Quarantäne gestellt, "eine so große Quarantäne hat es noch nicht gegeben". Schulen und Kitas sind dicht, Altenheimbesuche ausgesetzt.
In den kommenden Tagen werden Corona-Teams "in die Wohnungen reingehen und jeden Infizierten aufsuchen". Mit Dolmetschern wollen sie bei den meist osteuropäischen Arbeitern reden. "Wir haben 100 Übersetzer bestellt." Und wenn es bei 30 Grad in kleinen Wohnungen unerträglich werde, plant er eine Unterbringung in leeren Rehakliniken, Jugendherbergen und Hotels.
Der Journalist Michael Bröcker war Chefredakteur der "Rheinischen Post" und soll als NRW-Kenner die Lage einschätzen. Er kritisiert, Ministerpräsident Armin Laschet "hätte mehr tun können".
Aber Laschet hatte sich ja in der Corona-Krise als der Öffner profiliert und könne nun nicht so offen zurückrudern. "Wirkt nicht wie eine klare und stringente Strategie", urteilt Bröcker.
Noch schlechter als für Laschet steht es aber für den bisher so unangreifbaren Schalke-Chef und Unternehmer Tönnies. Bröcker sieht für ihn eine "existentielle Krise". "Ich glaube, das System Tönnies ist beendet. Er ist beispielhaft für eine Industrie, die Menschen so behandelt, dass es schon fast menschenunwürdig ist." Einen Rückzug aus seiner Firma hat Tönnies bisher immer abgelehnt. Doch Bröcker ist sich sicher, "dass Clemens Tönnies dieses Jahr nicht überstehen wird".
Das hofft Pfarrer Peter Kossen aus Lengerisch sehr. Er betreut seit Jahren viele der Arbeiter aus Fleischfabriken wie der von Tönnies. "Manche arbeiten 250 Stunden im Monat. Die Auslaugung ist lebensgefährlich."
Durch Abrechungstricks und schlichten Betrug bekämen sie trotzdem nur Mindestlohn. Er spricht von Sklaverei und Menschenhandel, die Subunternehmen, bei denen die Arbeiter angestellt sind, kümmerten sich oft auch um Schlafstätten und Transport zur Arbeit. Natürlich gegen Geld. "Da werden horrende Mieten für Matratzen genommen. Bis zu 250 Euro im Monat" – und teilweise werde nicht nur im Dreischichtbetrieb in den Betrieben gearbeitet, sondern auch in drei Schichten dieselbe Matratze zum Schlafen vermietet. "Es werden Wohnungen vollgesteckt mit Leuten, sodass man mit erbärmlichen Wohnungen sehr viel Geld verdienen kann. Das ist organisierte Kriminalität."
Auch von Beteuerungen von Clemens Tönnies hält Kossen wenig. Als ihm ein Zitat des Unternehmers eingespielt wird, dass dieser Dinge ändern wolle, sagt der Pfarrer: "Man kann mit der Mafia die Mafia nicht ändern. Sie können mit Kriminellen nicht einen Vertrag machen für mehr Rechtssicherheit." Das gelte nicht nur für Tönnies, sondern auch für andere Entscheider in der Branche. Es fordert ein Verbot von Werkverträgen, damit Firmen wie Tönnies sich nicht mehr hinter Subunternehmen verstecken könnten.
Er kritisiert auch, dass sich Entscheider wie Tönnies als Opfer inszenierten. "Die Sklaven sind die Opfer, die Sklaventreiber sind die Täter."
Behauptungen wie diese machen Christian von Boetticher ziemlich ärgerlich. Er reagiert wütend: "Der Sklaverei-Vergleich ist ja wieder typisch. Entweder es kommt ein Nazi-Vergleich oder ein Sklaverei-Vergleich."
"Solche Vergleiche gehen einfach nicht", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie und nennt den Pfarrer ironisch distanziert "der Herr Pastor".
Aber dieser lässt sich nicht beirren und legt nochmal nach. Arbeiter hätten sich bei ihm beklagt: "Wir fühlen uns wie Sklaven hier", berichtet Kossen. Und sie hätten gewusst, dass sie in Deutschland hart arbeiten müssten. Aber sie hätten gesagt: "Dass ich so gedemütigt werde, das habe ich nicht gewusst."
Wenn es emotional wird, neigt Frank Plasberg dazu, die räumliche Nähe zu seinen Gästen zu suchen. Auch in Corona-Zeiten.
Als er an den Tisch des Lobbyisten von Boetticher tritt, gibt der auch nach. Vielleicht auch, weil er kein Fleisch, sondern Müsli produziert: "Ich habe meinen eigenen Blick darauf", sagt er. Seine Firma Kölln habe in den 1970er Jahren noch 170 Abnehmer gehabt, heute gebe es in Deutschland nur noch fünf Lebensmittelketten. "Da haben Kartellamt und Politik Jahrzehnte lang geschlafen." Die wenigen Ketten könnten heute die Preise diktieren, das wirke sich dann eben manchmal auf die Produktionsbedingen aus, suggeriert er. Ob es bei ihm denn auch so ist und wenn nicht, warum, das wird leider nicht geklärt.
Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt findet, Corona sei in diesem Fall "ein Brennglas wie für vieles". Sie will "das Gesamtsystem politisch regulieren" und fordert einen "Mindestpreis für Fleisch".
Zum Ende der lebhaften Sendung verabschiedet sich Moderator Plasberg und es klingt so, als wäre er sich nicht sicher, ob nicht auch auf ihn noch einige Überraschungen warten würden. "Das war die letzte Sendung – vor der Sommerpause – so wie es im Moment aussieht."