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Schwarzfahren bald keine Straftat mehr? Was geplant ist

12.08.2022, Baden-W
Im Deutschen Bundestag wird darüber diskutiert, ob "Schwarzfahren" entkriminalisiert werden soll.Bild: dpa / Bernd Weißbrod
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Schwarzfahren bald keine Straftat mehr? Was geplant ist

19.06.2023, 18:44
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"Fahren ohne Fahrschein": Das war Montagmorgen Thema im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags. Es war der einzige Tagesordnungspunkt. Abgeordnete der Fraktion "Die Linke" hatten den Gesetzesentwurf eingebracht, der eine Änderung im Strafgesetzbuch vorsah. Das Ziel: Straffreiheit für "Fahren ohne Fahrschein", in der öffentlichen Debatte oft "Schwarzfahren" genannt.

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Immer wieder kommt das Thema auf. Denn Fahren ohne Fahrschein ist eine Straftat. Es fällt unter den Paragrafen 265a: Erschleichen von Leistungen. Wer kein Ticket zieht und in die Bahn einsteigt, begeht "Beförderungserschleichung" und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft werden.

Viele finden das übertrieben und nicht mehr zeitgemäß und wollen Schwarzfahren entkriminalisieren. Heißt: Aus der bisherigen Straftat soll eine Ordnungswidrigkeit werden.

Das Umfrageinstitut "Infratest dimap" befragte im März mehr als 1200 Menschen, ob sie diese Überlegungen richtig oder nicht richtig finden. Fast 70 Prozent halten sie demnach für richtig. Außerdem lehnen es 50 Prozent dieser Befragten ab, dass Menschen, die die Geldstrafe nicht bezahlen, ins Gefängnis müssen. Das nennt sich Ersatzfreiheitsstrafe.

Watson beantwortet die wichtigsten Fragen zum Thema "Schwarzfahren".

Fahren ohne Ticket: Wie viele machen das?

Wer ohne Fahrschein in den öffentlichen Verkehrsmitteln erwischt wird, muss zahlen. Jede:r kennt die Hinweise in den Bahnen: "60 Euro sind viel Geld". Wer das "erhöhte Beförderungsgeld" von diesen 60 Euro nicht bezahlen kann, muss dafür ins Gefängnis gehen. Denn die Verkehrsbünde zeigen das dann an.

Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasste im Jahr 2022 exakt 131.719 Fälle von "Beförderungserschleichung". Geschätzt wird, dass davon jedes Jahr rund 7000 Menschen ins Gefängnis müssen, weil sie die Strafe nicht bezahlen können. Nach einer Recherche von "Frag den Staat" und dem "ZDF Magazin Royal" sind das vor allem Menschen, die wenig oder gar kein Geld haben und sich das Ticket schlichtweg nicht leisten können. Dazu gehören unter anderem Suchtkranke, Obdachlose, Arbeitslose.

Sie müssen dann die Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Jede vierte Person, die so eine Freiheitsstrafe verbüßt, sitzt wegen Fahrens ohne Fahrschein ein, so geht es aus einem Abschlussbericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hervor. Tendenz steigend. Weil auch private Spender:innen das ablehnen, hat im Frühjahr dieses Jahres die Initiative "Freiheitsfonds" 67 Menschen aus dem Gefängnis freigekauft, die wegen Fahrens ohne Ticket einsaßen.

Oft sind es auch die gleichen Menschen, die in Haft müssen. So berichtete ein Mann anonym dem "Deutschlandfunk": "Ja, ich sitze wegen 1000 Euro Strafe. Ich bin schon das achte Mal im Gefängnis wegen Schwarzfahren. Ja, ich konnte mir eben die Fahrkarte nicht leisten – Sozialticket für 27,50 Euro – weil ich Alkoholiker bin."

Wer ist dafür, wer dagegen?

Die Verkehrsbetriebe verlieren durch die nicht gekauften Tickets geschätzt 250 Millionen Euro pro Jahr. Für viele ist es daher praktisch, dass die Justiz für sie das Geld einstreicht, wenn jemand das "erhöhte Beförderungsentgelt" nicht zahlt.

Die Ersatzfreiheitsstrafe hat allerdings – mal abgesehen von den Folgen für den Menschen – Konsequenzen für den Staat und die Justiz. Ein Tag im Gefängnis kostet je nach Bundesland unterschiedlich, im Schnitt aber 157 Euro. Dafür, dass also der Ticketpreis und die 60 Euro Strafe nicht gezahlt werden konnten, greift der Staat für die Haftstrafe tief in die Tasche.

Für die Justiz bedeutet das außerdem eine enorme Belastung. Der Deutsche Richterbund Baden-Württemberg ist beispielsweise dafür, aus der Straftat eine Ordnungswidrigkeit zu machen. In einigen Justizvollzugsanstalten kommt es zudem vor, dass diese fast komplett belegt sind. Keine Verurteilten wegen Fahrens ohne Fahrschein könnte zumindest ein wenig Erleichterung schaffen.

In der Politik sind sich über Parteigrenzen hinweg Anhänger:innen der SPD, FDP, Grünen und CDU einig, dass Fahren ohne Fahrschein nicht mehr im Strafgesetzbuch stehen soll. Die AfD ist dagegen. In den Bundesländern fordern auch die Justizminister:innen die Abschaffung. Allerdings: Im Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ist die Entkriminalisierung bisher nicht enthalten. Der Entwurf sieht nur vor, dass die Zahl der Hafttage halbiert wird.

ARCHIV - 04.04.2023, Berlin: Marco Buschmann (FDP), Bundesminister der Justiz, spricht w�hrend eines Interviews mit der Deutschen Presse-Agentur dpa. (zu dpa: Minister und Komponist Buschmann: �Schw�c ...
Marco Buschmann will das Gesetz zur Strafbarkeit des Schwarzfahrens reformieren, nicht abschaffen. Bild: dpa / Britta Pedersen

Eine fragwürdige Begründung, warum Strafverfahren bleiben sollten, lieferte 2018 ein Vertreter der Münchner Generalstaatsanwaltschaft, wie die "Süddeutsche Zeitung" schreibt. Solche Verfahren hätten ihren Reiz, weil sie "gleich vom Tisch" seien. Er sagte:

"Darüber freut sich, wenn ich das mal so zugespitzt sage, jeder Justizpraktiker, weil er das schnell erledigt hat. Wenn man ihm dies jetzt nimmt, nimmt man dem 28-jährigen Staatsanwalt sein tägliches kleines Erfolgserlebnis, dass er abends um 20 Uhr, wenn er nach anstrengender Kammersitzung zurück im Büro ist, auch ein paar Verfahren erledigen kann."

Von Befürworter:innen einer Entkriminalisierung wird genau das allerdings angeprangert: Eine Freiheitsstrafe wird am Schreibtisch verhängt, ohne dass der davon Betroffene jemals gesehen wurde.

Was gilt im Ausland?

In Schweden wird es zunächst einmal teurer als in Deutschland: 158 Euro werden fällig, wer ohne Fahrschein erwischt wird. Auch dort gibt es Ersatzfreiheitsstrafen. Allerdings wird diese nur vollstreckt, wenn jemand zahlen könnte, es aber schlichtweg nicht will und sich weigert. Wer nicht zahlen kann, muss auch nicht ins Gefängnis.

In Portugal zahlen Schwarzfahrer:innen den 100- bis 150-fachen Fahrpreis. Das sind mindestens 145 Euro. In Italien spricht man politisch unkorrekt davon, den "Portugiesen zu machen", wenn man ohne Ticket einsteigt. Hier zahlt, wer erwischt wird, das 60-fache des Ticketpreises. Das sind schnell bis zu 200 Euro.

In London und Paris ist es günstiger – teils aber auch schwerer, ohne Fahrkarte einzusteigen, weil es nur Zugänge gibt, an denen man das Ticket direkt vorzeigen muss. In London liegt die Geldstrafe bei umgerechnet 50 Euro, in Paris und Amsterdam ebenso. Wer nicht fristgerecht bezahlt, kriegt zwar noch eine höhere Geldstrafe, aber in diesen Ländern geht's ohne Strafanzeige.

Commuters enter the subway at the Gare du Nord station Wednesday, March 8, 2023 in Paris. French train and metro drivers, refinery workers, garbage collectors and others are holding further strikes ag ...
In Paris ist die Metro nur über Zugangsschranken zu erreichen.Bild: AP / Christophe Ena

In Österreich ist Schwarzfahren auch nicht strafbar. Dort handelt es sich um eine sogenannte "Verwaltungsübertretung" und wird mit einer Geldstrafe von maximal 218 Euro belegt, je nach Einkommen der Erwischten.

Ist Schwarzfahren ein rassistischer Begriff?

Woher der Begriff "Schwarzfahren" kommt, ist nicht eindeutig geklärt. Mit dem Wort verhält es sich zum einen wie mit "Schwarzmarkt" oder "Schwarzgeld": Das Adjektiv "schwarz" steht für etwas "schmutziges", folglich illegales. Eine andere Theorie: "Schwarz" kommt von dem jiddischen Wort "shvarts", was Armut bedeutet und Menschen bezeichnete, die zu arm waren, sich einen Fahrschein zu kaufen.

Weil der Begriff Schwarzfahren rassistische Konnotationen wecken kann, lehnen einige Menschen ihn unabhängig von der Herkunft ab. Die "Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland" beispielsweise sagte 2019 in einem Statement:

"Als Selbstvertretung Schwarzer Menschen in Deutschland wissen wir, dass der Begriff häufig bei Anti-Schwarzen rassistischen Übergriffen in öffentlichen Verkehrsmitteln verwendet wird, nicht zuletzt auch von rassistischen Fahrgästen und Kontrollpersonal."

Der Begriff sei bereits ursprünglich für die Herabwürdigung von Schwarzen Menschen verwendet worden – nun entfalte er in der rassistischen Gegenwart in Deutschland seit Jahrzehnten eben diese Wirkung.

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