Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) setzt auf schnelle Verhandlungen in der Bundesregierung für ausreichende Corona-Schutzmaßnahmen für den Herbst. Die Verhandlungen zwischen ihm und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hätten begonnen, sagte Lauterbach nach der Entgegennahme eines Berichts über die Evaluierung der bisherigen Corona-Auflagen am Freitag in Berlin.
Der Bericht sollte Aufschluss über die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen gegen die Eindämmung der Viruserkrankung liefern. Hinter viele Auflagen setzt der Sachverständigenausschuss, der seinen Bericht am Freitag in Berlin vorstellte, jedoch große Fragezeichen.
Das Gutachten bringe dennoch eine "wichtige, wenn auch nicht die alleinige Perspektive", so Lauterbach. Nun stellt sich die Frage, zu welchen Erkenntnissen der Expertenrat mit seiner Beurteilung kam. Wie könnte das weitere Vorgehen in Sachen Corona aussehen? Bundeskanzler Olaf Scholz möchte jedenfalls mit "richtigen Winterreifen" in den Corona-Herbst starten. Ein Überblick.
"Wir haben eine schlechte Datenlage", sagte der Virologe Hendrik Streeck bei der Vorlage des Berichts. Mangels ausreichender Daten seien keine sicheren Bewertungen möglich. Die Wirkungen und Nebenwirkungen einzelner bisheriger Schutzmaßnahmen sind demnach kaum für sich genommen zu beurteilen. "Im Grunde sind das Maßnahmenbündel, wir können das nicht mehr auseinanderrechnen."
Auch der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte der dpa: "Die Aussagekraft des Berichts ist (...) begrenzt." An vielen Stellen weise er auf Unsicherheiten hin. "Die Abwesenheit von Evidenz zur Wirksamkeit ist keine Evidenz für die Abwesenheit von Wirksamkeit", stellte Dahmen fest.
Die Experten gaben ihre Einschätzung zu einzelnen Maßnahmen und deren Wirksamkeit also auf Basis einer mangelnden Datenlage.
Dass es wieder zur Maskenpflicht in Innenräumen kommen wird, ist wahrscheinlich. Der Virologe Hendrik Streeck stellt in Bezug auf den Bericht fest: "Masken wirken – das muss man deutlich sagen." Aber, so der Bericht: "Eine schlecht sitzende und nicht eng anliegende Maske hat einen verminderten bis keinen Effekt." Da das Coronavirus drinnen eher übertragen werden könne als draußen, "sollte eine Maskenpflicht zukünftig auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben", so die Einschätzung des Gremiums.
Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken sei aus den bisherigen Daten nicht ableitbar. Streeck sagte: "Da sollte sich eine gesonderte Kommission einmal mit beschäftigen." Im Übrigen stellte der Virologe heraus: "Es kommt sehr darauf an, dass der Mensch auch mitmachen will."
"Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker", so das Gutachten. Je länger ein Lockdown dauere und je weniger Menschen bereit seien, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer sei der Effekt. Bei vielen sinkt laut den Wissenschaftlern die Bereitschaft mit der Zeit. Ähnlich wie bei den Lockdown-Maßnahmen sei auch die Kontaktnachverfolgung vor allem in der Frühphase der Pandemie wirksam gewesen.
Die Amtsärzte bestanden auf der Möglichkeit von Auflagen. "Auch ein Lockdown muss als eines der letzten Instrumente grundsätzlich möglich sein", sagte der Vorsitzende des Verbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Johannes Nießen, den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). "Im absoluten Ernstfall müssen die Landesregierungen wieder zügig Betriebe und Schulen schließen können."
Einen hohen Effekt messen die Expertinnen und Experten Zugangsbeschränkungen auf Geimpfte, Genesene und/oder Getestete bei, sogenannten 2G/3G-Maßnahmen – aber vor allem in den ersten Wochen nach der Boosterimpfung oder der Genesung. Der Schutz vor einer Infektion lasse mit der Zeit deutlich nach.
In der aktuellen Phase der Pandemie sei die Beurteilung der Wirkung solcher Beschränkungen schwierig. Wenn diese nötig würden, sollte zunächst eine Testung unabhängig vom Impfstatus als Zutrittsbedingung empfohlen werden. Wie gut eine Eindämmung über Testung funktionieren könne, müsse aber weiter erforscht werden.
Offen ist die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Virus. Weil zeitgleich mehrere Maßnahmen eingeführt wurden, könne demnach deren Effekt allein nicht gemessen werden. Das Gremium stellt zugleich fest, dass im Gegensatz dazu aber die "nicht-intendierten Wirkungen" durchaus untersucht worden seien. Das Gremium rät, eine weitere Expertenkommission sollte diese nicht beabsichtigten Folgen "unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls" genau prüfen.
Zahlreiche Experten warnen vor den fatalen Auswirkungen, die Schulschließungen auf die mentale und physische Gesundheit von Kindern haben können.
Die Sachverständige Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, sagte, nötig sei "so etwas wie ein Rechtsanspruch auf ein Mindestmaß an sozialen Kontakten". In Familien sei es zu einem "Rückfall in alte Geschlechterrollen" und zu einem "unglaublichen Ausmaß an mentaler Erschöpfung" gekommen.
Die empfohlenen Maßnahmen haben sich im Verlauf der Pandemie geändert. Insgesamt müssten sich die gegenwärtigen und zukünftigen Maßnahmen auf den "Übergang zur Endemie" mit dem Schutz der besonders gefährdeten Gruppen konzentrieren, so das Gutachten. Eine Endemie bedeutet, dass eine Krankheit in einer Bevölkerung ständig auftritt und nicht mehr ganz verschwindet. Zudem müsse eine Überlastung des Gesundheitswesens vermieden werden.
"Wir müssen für den Herbst gut vorbereitet sein", verkündet Gesundheitsminister Karl Lauterbach kurz nach Entgegennahme des Expertenberichts. Er erwartet eine "schwere Herbstwelle". Lauterbach sagte, der endemische Zustand sei noch nicht erreicht, also ein Zustand, in der das Virus dauerhaft vorhanden sei.
Die Bundesregierung hat unterdessen erste praktische Regelungen für den Corona-Kurs im Herbst auf den Weg gebracht. Das Kabinett billigte einen Entwurf des Gesundheitsministeriums, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag mitteilte. Damit sollen unter anderem die Grundlage für weitere Impfungen, genauere Daten und verstärkten Schutz von Risikogruppen in Pflegeeinrichtungen geschaffen werden.
Noch nicht in dem Entwurf enthalten sind Regelungen zu möglichen weitergehenden Alltagsbeschränkungen im Infektionsschutzgesetz. Sie sollen im weiteren parlamentarischen Verfahren berücksichtigt werden.
Konkret sollen der Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen zufolge unter anderem die Rechtsgrundlagen für Corona-Impfungen bis 30. April 2023 verlängert werden. Für Pflegeeinrichtungen soll es bundesweite Mindeststandards zu Infektionsprävention und Hygiene geben.
Um Engpässe in Kliniken früher zu erkennen, sollen laut dem Entwurf außer für Intensivstationen künftig auch freie und belegte Betten auf Normalstationen erfasst und zentral gemeldet werden. Angestrebt wird zudem eine aktuelle "Vollerfassung" von PCR-Tests – also aller Ergebnisse. Bisher besteht eine Meldepflicht nur für positive Tests. Totale Lockdowns gelten derzeit wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit als unwahrscheinlich.
(ast/dpa)