Menschen laufen auf einem vollem Gleis am Münchner Hauptbahnhof zum Zug.Bild: SVEN SIMON / Frank Hoermann / SVEN SIMON
watson antwortet
Mit großem Chaos sind die deutschen Bahnhöfe in diesem Jahr in die Sommersaison gestartet: Pfingsten und 9-Euro-Ticket. Das war zu viel. Überfüllte Züge, Verspätungen und schimpfende Kunden waren die Folge. Tatsächlich sind all das aber auch Erfahrungen, die die Bahnkundschaft immer wieder machen muss – 9-Euro-Ticket hin oder her.
Gerade im Fernverkehr ist das für viele Bahngäste besonders ärgerlich. Denn die Fahrt mit dem ICE oder IC kostet ohne Vergünstigungen – durch Sparpreisangebote oder die Bahncard – recht viel Geld. Von Berlin nach Hannover kommt man an einem normalen Freitagnachmittag für circa 50 Euro. Von Frankfurt nach München für knappe 70 Euro und von Hamburg nach Düsseldorf kostet die Fahrt ohne Vergünstigungen und Zugbindung knappe 60 Euro.
Und dann fällt der Zug zumindest auf bestimmten Strecken gefühlt regelmäßig aus – oder ist viel zu spät.
Besonders am Pfingstwochenende haben sich lange Schlangen an den Zügen gebildet.Bild: pressefoto_korb / Micha Korb
Aber ist das wirklich so? Wird die Fahrt mit dem Fernverkehr teurer? Und was will die deutsche Politik dafür tun, damit die Mobilitätswende auf der Schiene tatsächlich möglich ist? Diese Fragen klärt watson für euch.
Wie ausgelastet ist der deutsche Fernverkehr?
Dass die Züge aktuell wieder voll sind, liegt auch an der Entwicklung der Pandemie. "Wir sehen, dass die Menschen wieder mehr reisen", heißt es vonseiten der Deutschen Bahn auf watson-Anfrage. Die Auslastung im Fernverkehr liege aktuell bei 50 Prozent. Sie variiere aber nach Wochentagen. "In der Regel ist sie montags, freitags und sonntags höher, dienstags und mittwochs dagegen niedriger", sagt eine Bahn-Sprecherin.
screenshot: watson.de
Besonders frequentiert seien die Hauptachsen der Bahn: von Berlin nach Hamburg, Frankfurt oder Hannover. Außerdem von Frankfurt nach Köln.
Die Sprecherin ergänzt:
"Saisonal kommen noch die beliebten Urlaubsstrecken hinzu, wie beispielsweise Richtung Ostsee, an die Nordsee-Küste und Richtung Österreich."
Ausfallen würden im Schnitt nur ein bis zwei Prozent der Fernverkehrsfahrten. Angegeben sind hierbei allerdings Züge, die auf der gesamten Fahrt ausfallen. Und nicht die Haltestellen, die durch die sogenannte "Pofalla-Wende" ausfallen. Der Name kommt von dem ehemaligen Infrastruktur-Vorstand der Deutschen Bahn, Ronald Pofalla. Im März dieses Jahres zog er sich von seinem Posten zurück – hinterlassen hat er allerdings seinen Umgang mit Verspätungen.
Eben die "Pofalla-Wende". Sie sieht vor, dass Züge ihre Verspätung wieder herausfahren, indem die letzten Haltestellen einfach wegfallen.
Ronald Pofalla war bis März der Infrastruktur-Vorstand der Deutschen Bahn.Bild: dpa / Marijan Murat
Das heißt konkret: Hat der ICE vom Berliner Ostbahnhof nach Frankfurt Main Hauptbahnhof bereits in Göttingen eine immense Verspätung, dreht er womöglich einfach wieder um. So kann er zumindest auf der nächsten Fahrt wieder pünktlich sein.
Der Datenanalyst David Kriesel hat außerdem bei einer groß angelegten Recherche im Jahr 2019 nachgewiesen, dass die Bahn ein großes Ausfallproblem hat, wenn es heiß ist. Im Juli 2019 seien laut Kriesels Recherche zum Beispiel zehn Prozent aller ICEs ausgefallen.
Hat die Bahn die Preise angehoben?
Die Auslastung der Züge hat auch Auswirkungen auf die Preise. Zwar habe es in den vergangenen Monaten keine Preissteigerungen gegeben, heißt es von der Pressestelle der Deutschen Bahn, allerdings seien die "Super-Sparpreis"- und "Sparpreis"-Angebote kontingentiert. Das meint: Die Höhe der Sparpreise orientiert sich an der Auslastung des Zuges – die der regulären Tickets, die ohnehin teurer sind, nicht.
Die Bahn-Sprecherin führt aus:
"Aktuell verzeichnen wir angesichts der Sommerurlaubszeit und der langen Feiertagswochenenden eine hohe Nachfrage. Daher werden unsere Kundinnen und Kunden gerade auf den nachgefragten Strecken und in den beliebten Zeitlagen weniger günstige Preise finden."
Anders sehe es auf den unbeliebteren Strecken aus: Da die Züge dort nicht so voll sind, gibt es noch günstige Spartickets. Wie ein Sprecher des Verkehrsministeriums auf watson-Anfrage erklärt, hat der Bund nur wenig Einfluss auf die Preispolitik der Deutschen Bahn. Das liege an der Bahnreform aus dem Jahr 1993: Die Bahn agiert in eigenwirtschaftlicher Verantwortung. Das heißt: Sie ist privat.
Trotzdem habe der Bund schon etwas getan, um die Preise zu senken. Der Sprecher sagt: "Zur Senkung der Ticketpreise haben wir die Mehrwertsteuer im Personenfernverkehr auf sieben Prozent gesenkt."
Kann die Bahn aufstocken?
Die Frage, die sich natürlich trotzdem stellt, ist, ob die Bahn denn auch auf den stark ausgelasteten Strecken etwas an der Situation verändern kann. Mit längeren Zügen oder engeren Taktungen zum Beispiel. Die Sprecherin der Bahn sagt dazu:
"Wir haben in den letzten Jahren unsere Flotte stark ausgebaut, weiterhin erreicht uns alle drei Wochen ein neuer ICE 4."
In diesen ICEs finden insgesamt 918 Menschen einen Sitzplatz. XXL-Züge also. Insgesamt sei die ICE-Flotte außerdem in den vergangenen drei Jahren um 60 Züge gewachsen. Seit Beginn des Sommerfahrplans 2022 (am 12. Juni) seien so viele der XXL-ICEs im Einsatz, wie nie zuvor. Die Sprecherin führt aus:
"Mit diesem Sommerfahrplan bauen wir unser Fernverkehrsangebot mit mehr Zügen, neuen Direktverbindungen und zusätzlichen Fahrten weiter aus."
Das wöchentliche Platzangebot sei nun auf über drei Millionen Sitzplätze gestiegen – insgesamt seien das 20 Prozent mehr, als im Sommer 2019.
Wie kann die Mobilitätswende gelingen?
Wenn die Hauptachsen der Bahn an den Wochenenden aber jetzt schon stark ausgelastet sind, stellt sich die Frage, wie der Fernverkehr weiter ausgebaut werden kann. Vor allem dann, wenn eine Mobilitätswende hin zur Schiene erreicht werden soll. Ähnlich sieht die Lage im Regionalverkehr aus. Denn wie das erfolgreiche 9-Euro-Ticket zeigt, sind Menschen bereit auf die Bahn umzusteigen – zumindest dann, wenn die Fahrt bezahlbar ist.
Aus Sicht von Karl-Peter Naumann, der Ehrenvorsitzende des Fahrgastverbandes Pro Bahn, ist das 9-Euro-Ticket ein Brennglas für die Probleme der Mobilitätswende.
Im Gespräch mit watson sagt Naumann:
"Wer nur stehend befördert wird, für den ist der öffentliche Verkehr nicht attraktiv. Was wir brauchen, ist ein gutes Angebot und dann im zweiten Schritt erst die Preismaßnahmen."
Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn.Bild: dpa / Jörg Carstensen
Die größten Herausforderungen für die Bahn liegen laut der Bahn-Sprecherin im Bereich der Infrastruktur. Diese Einschätzung teilt Naumann. Im Gespräch mit watson sagt er:
"Seit 40 Jahren wurde die Infrastruktur nicht auf den richtigen Stand gebracht. Im besten Fall wurde ein bisschen repariert – und ein, zwei neue Strecken gebaut. Das Straßennetz ist währenddessen massiv gewachsen. Da darf man sich nicht wundern, dass es jetzt Engpässe gibt."
Gerade im Regionalverkehr würden immer nur so viele Züge gekauft, wie unbedingt nötig sind. Und das, obwohl es dort einzelne Strecken gebe, wo durchaus noch mehr Züge fahren könnten.
In puncto Infrastruktur will auch das Bundesverkehrsministerium ansetzen. "Die zügige und umfangreiche Verlagerung von Verkehren auf die Schiene ist notwendig, um die Klimaziele zu erreichen", sagt ein Sprecher des Ministeriums. Insgesamt gebe es drei Bereiche, die fit gemacht werden sollen:
- Das Schienennetz: Das Ziel sei es, die Fahrgastzahlen zu verdoppeln und den Schienengüterverkehr um 25 Prozent anzuheben. Dafür solle die Effizienz des Bestandsnetzes durch verschiedene Maßnahmen erhöht werden. Außerdem soll durch Aus- und Neubau mehr Kapazität geschaffen werden.
- Der ÖPNV: Der öffentliche Personennahverkehr soll durch einen Modernisierungspakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen fit gemacht werden. Konkret gehe es laut dem Sprecher des Verkehrsministeriums um die Finanzierung bis 2030. Seit Februar beschäftige sich eine Arbeitsgruppe mit der Frage, im Herbst sollen erste Ergebnisse vorgestellt werden – auch die Erkenntnisse aus dem 9-Euro-Ticket-Sommer sollen in die Bewertung einfließen.
- Die Planung: Die Planung im Eisenbahnsektor soll beschleunigt werden. Dafür wurde eine Kommission eingesetzt, die Ende Juni das erste Mal tagen soll. Bis zum Ende des Jahres solle die Kommission Handlungsempfehlungen für die Verwirklichung einer schnelleren, effizienteren und bedarfsgerechteren Schieneninfrastruktur erarbeiten.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in seinem Büro.Bild: dpa / Britta Pedersen
Insgesamt, so der Sprecher, sei dem Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) die Mobilitätswende Schiene sehr wichtig. Das sei der Grund, warum bereits jetzt alle drei Bereiche angestoßen würden. Aus Sicht des Pro-Bahn-Vorsitzenden Naumann sind diese Neuerungen allerdings nur minimalistisch. Was so nicht angegangen würde, sei das große Projekt "Deutschland Takt". Dieses sieht vor, dass alle Bahnen in Deutschland aufeinander abgestimmt sind. Regionalbahnen also auf ICEs warten und andersherum.
Naumann sagt:
"Das wäre eigentlich genau der Durchbruch für den Schienenverkehr insgesamt."