In dieser Woche hat das Team um den Virologen Hendrik Streeck seine Ergebnisse der sogenannten Heinsberg-Studie präsentiert. Für Aufsehen sorgte die Hochrechnung der Forscher zur Dunkelziffer: Demnach könnten sich mehr als 1,8 Millionen Menschen in Deutschland bereits mit dem Coronavirus infiziert haben, ohne, dass diese Fälle alle bekannt wurden.
Forscher melden aber Zweifel an der Hochrechnung an. Mehrere Wissenschaftler berichten dem SWR am Donnerstag, dass Streecks Rechnung fehlerhaft sei. Die Spanne der Dunkelziffer müsse viel weiter angegeben werden.
Die Dunkelziffer hatten die Forscher um Streeck anhand der Sterblichkeitsrate berechnet. In der untersuchten Gemeinde Gangelt habe diese Rate 0,37 Prozent betragen.
Im zweiten Schritt glichen sie diese Zahl mit den offiziellen gemeldeten Fall- und Todeszahlen ab.
Zum Zeitpunkt der Rechnung der Forscher lauteten die offiziellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts: 162.600 offiziell gemeldete Infektionen und fast 6700 Todesfälle. Für ganz Deutschland ergibt die Hochrechnung laut den Heinsberg-Forschern dann rund 1,8 Millionen Infizierte.
Statistiker aber werfen ein: Zwei Unsicherheitsfaktoren seien bei dieser Rechnung nicht ausreichend berücksichtigt worden – die Zahl der Infizierten und die Zahl der Verstorbenen.
Der Tübinger Statistikprofessor Philipp Berens spricht gegenüber dem SWR von einem kritischen Fehler bei der Hochrechnung für ganz Deutschland:
Die Unsicherheiten führten dazu, dass für die Dunkelziffer nur eine Spannbreite, aber keine so präzise Zahl mit großer Sicherheit nennbar sei. Laut den Wissenschaftlern, die der SWR befragt hat, könnte die Dunkelziffer anhand der Heinsberg-Daten mindestens bei knapp einer Million, aber auch bei bis zu fünf Millionen liegen.
Berens erklärte das dem SWR mit einem Vergleich: "Das ist so ähnlich wie mit der Wettervorhersage. Da kann ich Ihnen sagen: Ja, vielleicht regnet es. Aber vielleicht ist es auch plausibel, dass die Sonne scheint."
Das SWR konfrontierte auch einen Statistiker, der an der Heinsberg-Studie beteiligt war, mit diesem Vorwurf. Statistikprofessor Matthias Schmid räumte ein: Für eine Hochrechnung für Deutschland "müssten zusätzliche statistische Unsicherheiten" berücksichtigt werden. In dem veröffentlichten Ergebnis-Papier diese Woche hätten sich die Forscher daher auf "kurze theoretische Beispiel-Hochrechnung" beschränkt.
Die Ergebnisse aus Heinsberg wurden offenbar wieder einmal verkürzt und zugespitzt präsentiert. "Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden", hatte Streeck seine eigenen Ergebnisse präsentiert.
(ll)