"Pippi Langstrumpf" war eines der ersten Bücher, das meine Mutter mir vorlas, genau genommen das allererste Nicht-Bilderbuch. Wochenlang kroch ich jeden Abend auf ihren Schoss und hörte mir die Geschichten vom stärksten Mädchen der Welt an. Nachdem wir das Buch einmal durchgelesen hatten, musste meine Mutter immer wieder von vorne anfangen. Ich war nicht bereit, die Welt von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf so schnell wieder zu verlassen.
Das Vorlesen und später dann gemeinsame Lesen, das zusammen in andere Welten Eintauchen, war für meine Mutter nicht nur eine Chance, mich so müde zu bekommen, dass ich ohne Murren ins Bett ging. Es war vor allem eine Möglichkeit, mir Vorbilder zu geben: zunächst Pippi Langstrumpf, später dann Hermine Granger aus "Harry Potter" oder Lyra Belacqua aus "Der Goldene Kompass". Durch die Mittel der Literatur beschenkte sie mich immer wieder mit starken weiblichen Vorbildern, ohne dabei wahrscheinlich jemals zu merken, dass sie selbst mein größtes war.
Als Kind waren das für mich vor allem Figuren, mit denen ich mitfiebern und die ich bewundern konnte. Den dahinter stehenden Wert habe ich viel später erkannt, als die fiktiven Vorbilder Schritt für Schritt durch reale ersetzt wurden. Und ich gerade in meiner politischen Arbeit Tag für Tag aufs Neue merkte, wie wichtig diese sind. Nicht als perfekte Heldinnen, die man aus der Ferne bewundert, sondern als Menschen, die den Vorstellungsrahmen unserer eigenen Möglichkeiten erweitern.
Denn als junges Mädchen, das in unserer Gesellschaft aufwächst, kriegt man schon früh seine Grenzen aufgezeigt. Man spürt sehr bald, und bekommt auch direkt gesagt, wie man sich nicht zu verhalten hat, wo man sich zurücknehmen soll, und was man alles nicht werden kann. Da ist es unglaublich wertvoll, Menschen zu haben, die diese Grenzen sprengen, die nicht nur aufzeigen, sondern auch vorleben, was man alles anstreben und wovon man träumen kann. Menschen, die Türen öffnen und sie hinter sich nicht wieder ins Schloss fallen lassen, sondern sie für diejenigen, die nach ihnen kommen, offen halten.
Was mich an Pippi Langstrumpf am meisten faszinierte, war nicht ihre Stärke, sondern vor allem ihre Unabhängigkeit. Vom Schoß meiner Mutter aus, war für mich die Vorstellung, ohne Erwachsene zu leben, keinen Regeln folgen zu müssen, ganz auf sich alleine gestellt zu sein, beängstigend und anziehend zugleich. Beides legt sich mit dem Erwachsenwerden.
Spätestens dann, wenn man merkt, dass man – auch wenn man alleine wohnt – mit großer Wahrscheinlichkeit nie einen Affen oder ein Pferd haben wird, und sich die Regeln der Multiplikation – auch wenn der eigene Name an der Tür steht – nicht in Luft auflösen. Doch die Faszination für das Kernelement von Astrid Lindgrens Charakter bleibt: die Autonomie. Also Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Freiheit.
Oder noch darüber hinausgehend die Faszination für einen Zustand, in dem man sich selbst genügt, in dem sich weder der eigene Wert, noch die Legitimation, eigene Entscheidungen zu treffen, von einer anderen Person ableiten. In dem man selbst wesentlich ist. Also ein Zustand, der für viele erwachsene Frauen genauso erstrebenswert wie verstellt bleibt. Und zwar für diejenigen, die oft vor allem als Körper, den jeder bewerten und beurteilen darf, gesehen werden, oder die wie jetzt in der Corona-Krise mit unvorstellbarer Wucht auf ihre Rolle als Mütter oder Ehefrauen zurückgeworfen werden.
Autonomie und damit einhergehend der Wunsch, die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten, steht schon lange im Zentrum der Emanzipation von Frauen: der Welt nicht als Objekt, sondern als Subjekt zu begegnen, das denkt, erkennt, handelt und verändert. In der Realität wird sich dieser Wunsch jedoch anders als in der Villa Kunterbunt nicht dadurch erfüllen, dass man die gesellschaftlichen Regeln für sich selbst für außer Kraft gesetzt erklärt, sondern nur dadurch, dass man sie verändert.
Denn während der Drang zur Autonomie in Pippi Langstrumpf dadurch zur Realität wird, dass sich Pippi in gewisser Weise der Gesellschaft um sich herum mit all ihren Zwängen verweigert, bleibt es in unserer Welt eine politische Aufgabe, die Voraussetzungen für Autonomie zu schaffen. Und das heißt, die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse so einzurichten, dass Frauen selbstbestimmt in ihnen leben können.
"Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt" ist wohl der bekannteste Satz von Pippi Langstrumpf. Er dient in seiner Einfachheit sicherlich nicht als Leitprinzip für politisches Handeln, denn Autonomie ist nicht gleich Verantwortungslosigkeit und Selbstbestimmung ist nicht Ignoranz. Und gerade in der Corona-Krise merken wir nicht nur eindrücklich, wie wichtig ein gesellschaftlicher Konsens in Bezug auf die Anerkennung bestimmter wissenschaftlicher Fakten ist, sondern auch, wie gefährlich es sein kann, wenn Freiheit mit Rücksichtslosigkeit verwechselt wird.
Doch auch wenn Pippis Motto durch die Brille der aktuellen Ereignisse wie der Ausspruch all jener wirken könnte, die denken, dass man Rationalität und wissenschaftliche Fakten einfach weg empören kann, hat er für mich als Kind vor allem eins bedeutet: dass man die Dinge um sich herum nicht einfach stillschweigend hinnehmen muss. Dass die Welt um uns herum nicht in Stein gemeißelt ist. Sondern dass sie von Menschen gemacht ist, und damit auch von Menschen verändert werden kann. Und genau darum geht es für mich bis heute im politischen Handeln. Sich die Werkzeuge anzueignen, um die Verhältnisse, die meinen Alltag bestimmen, selbst mitzugestalten, meine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Auch das bedeutet Autonomie: sich der vermeintlichen Ohnmacht zu entziehen und Gestaltungsmacht zu beanspruchen.
Es ist immer schwierig zu sagen, wie man der Mensch wurde, der man ist. Und es wäre zu kurz gegriffen, die eigene politische Entwicklung auf die Inspiration durch bestimmte Personen – seien sie real oder fiktiv – zurückzuführen. Doch bei einer Sache bin ich mir ziemlich sicher: Ich wäre heute nicht in der Lage, selbst Politik zu machen, also genau diese Gestaltungsmacht zu beanspruchen, ohne die vielen weiblichen Vorbilder, die mir gezeigt haben und immer wieder zeigen, was möglich ist.
Und nicht zuletzt ohne meine Mutter, die mich von klein auf mit Figuren wie Pippi Langstrumpf vertraut machte, die stark waren und die frei sein wollten. Allen, die solche Figuren geschaffen haben, und allen, die sie jungen Mädchen näher bringen, gilt zum 75. Geburtstag von Pippi Langstrumpf mein Dank.