Erdoğans politische Karriere hat auf den Trümmern eines Erdbebens begonnen – und könnte jetzt unter den Trümmern eines weiteren Erdbebens definitiv begraben werden.
Damit das nicht passiert, macht der türkische Präsident Wahlkampf mit Trümmern.
Die verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien erschütterten die Menschen am Montag, 6. Februar. Zwei Tage später besuchte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, die Stadt Kahramanmaraş – eine fast völlig zerstörte Ortschaft in der Nähe des Epizentrums.
Das Staatsoberhaupt inszenierte sich dabei als Vater der Nation – schwarz gekleidet, mit grimmigem Gesicht. Er, der Einzige, der die Opfer versorgt und den Überlebenden ein Dach über dem Kopf gibt.
Vor einer kleinen Gruppe Betroffener sprach er in die Mikrofone der nationalen Medien. Er versprach den Bau von Sozialwohnungen für alle Überlebenden – und zwar innerhalb eines Jahres. Zudem würden 10.000 türkische Lira (497 Euro) an alle betroffenen Familien verteilt. Hinter ihm prangte auf einem Zelt das Logo der türkischen Katastrophen- und Notfallmanagementbehörde AFAD.
Die regierungsnahen Medien, die Erdoğans Besuche dokumentieren, feiern den Präsidenten als Macher. Andere Journalisten seien aufgefordert worden, keine Aufnahmen von bedürftigen Menschen oder gar frierenden Kindern zu zeigen, schreibt ein Reporter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Noch einmal zwei Tage später beehrte Erdoğan ein Zeltcamp in der Provinz Adiyaman, das für Überlebende aufgebaut wurde. Wieder war der Präsident völlig in Schwarz gekleidet, während er Verwundete tröstete. Erdoğan, der Volksnahe.
Umringt von Presse und Überlebenden, sagte er: "Wir stehen vor einer der größten Katastrophen unserer Geschichte."
Doch Erdoğan sprach nicht nur von einer "Katastrophe", sondern auch von "Schicksal" – "inşallah".
Abseits der Mikrofone der staatstreuen Medien kritisierten die Überlebenden Erdoğan öffentlich. In der Stadt Antakya sagten Menschen beispielsweise gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass man sie in der Kälte "ausgesetzt" habe. Ohne Wasser, Essen, Medikamente, Strom oder Leichensäcke. Auch Maschinen, um die Trümmer zu entfernen, fehlten.
Öffentlich wird dem Präsidenten vorgeworfen, die Verantwortung für diese Inkompetenz zu tragen.
"Man kann nicht das Schicksal für alles verantwortlich machen – die Menschen müssen ihre Arbeit machen, sie müssen sich an die Gesetze halten." Mit diesen Worten spielt der Ladenbesitzer Halil Ibrahim Çalışkan gegenüber Al Jazeera auf die Tatsache an, dass Gelder, die für erdbebensicheres Bauen gedacht waren, verschwunden sind. Die Behörden haben die Festnahme von mehr als 100 Personen angeordnet, die verdächtigt werden, für eingestürzte Gebäude verantwortlich zu sein. Çalışkan hat alles verloren im Erdbeben: sein Geschäft, sein Zuhause.
Auch kein "Schicksal" ist es, dass die türkische Armee erst 48 Stunden nach den Erdbeben ins Katastrophengebiet entsandt wurde, um Such- und Bergungsarbeiten zu verrichten. Sondern eine Folge des zentralistischen Systems, das der türkische Herrscher während der letzten Jahre zementiert hat. Sogar den lokalen Notfallbehörden waren die Hände gebunden – denn auch Notfallmaßnahmen waren durch die Regierung Erdoğans zentralisiert worden. Und so reagierten die lokalen AFAD-Büros zu langsam, weil sie auf Befehle von oben warteten.
Überlebende erklärten Reuters, wie sie erfolglos versucht hätten, mit den örtlichen AFAD-Stellen in Kontakt zu treten. Die Anfragen hätten über die Koordinierungszentren der AFAD zu gehen, so Quellen von Reuters.
Währenddessen starben Menschen unter den Trümmern. Eine Mutter namens Kevser sagte gegenüber Reuters:
Kevser musste zuhören, wie ihre Söhne immer stiller wurden und nach zwei Tagen verstummten. "Die Zeit läuft ab. Ein Kran, um Himmels willen."
Der türkische Ärzteverband habe viermal um Erlaubnis ersucht, im Erdbebengebiet ehrenamtlich tätig zu werden, ohne jemals einmal eine Antwort des Gesundheitsministeriums zu erhalten, so die FAZ. Der Antrag der Kammer der Elektroingenieure hingegen sei bearbeitet worden – sie wollten in den Zeltstädten die Infrastruktur aufbauen – und schließlich abgelehnt.
Zu dieser Zeit schnüffelten die Hunde der Schweizer Rettungskette und vom Schweizer Verein Redog zusammen mit der türkischen nicht staatlichen Hilfsorganisation GEA bereits nach Überlebenden in anderen Ortschaften. Auch NGOs und die politische Opposition sind in die Bresche gesprungen. Doch: "Helfer werden diskriminiert und diffamiert", schreibt die FAZ. Busse der Opposition mit Hilfsgütern seien erst in das Katastrophengebiet gelassen worden, nachdem ihre Plakate überklebt worden waren.
Die Regierung streitet viele dieser Vorwürfe ab. Auch den Vorwurf, dass es zu Plünderungen gekommen sei, da die offiziellen Stellen nicht fähig gewesen seien, Sicherheit zu gewährleisten: "Es gibt keine Plünderungen, es gibt nur Lügen", erklärte der Innenminister im Fernsehen. Gleichzeitig verbreitete sich die Meldung, dass Dutzende Personen wegen Plünderungen und Diebstahls verhaftet worden seien.
Bis Samstag hatte die AFAD dann mehr als 218.000 Einsatzkräfte, Polizisten, Soldaten, Freiwillige und anderes Personal in die Erdbebenzone entsandt. Auch Hilfsgüter wurden in rauen Mengen in die betroffenen Gebiete gekarrt. "Ich möchte unserer Regierung danken, sie ist so stark, sie hilft uns so sehr – mehr, als wir es brauchen", sagt darum der Schulverwalter Doğan Işdar gegenüber "Al Jazeera". Seine Frau Figen fügt hinzu:
Während die langsame Hilfe kein Schicksal, sondern dem politischen System Erdoğans geschuldet war, könnte das Erdbeben tatsächlich schicksalhaft werden bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.
Denn in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten in der Türkei lebten rund 13,5 Millionen Menschen. Das sind gut neun Millionen Wähler – rund 15 Prozent aller Wahlberechtigten in der Türkei überhaupt. Dabei gehört ein Teil der Bevölkerung im Erdbebengebiet nicht zu Erdoğans konservativ-islamischer Wählerbasis, da es sich um Aleviten, Kurden oder Christen handelt. Mehrere Wahlbezirke der Region haben bei den Wahlen 2018 nicht für Erdoğans AKP gestimmt.
Bis zum Erdbeben am Montag sah es aus rein politischer Sicht ziemlich gut aus für Erdoğan. Trotz explodierender Inflation und eines endlosen Verfalls der Währung hat die Popularität des amtierenden Präsidenten in den vergangenen Monaten in vielen veröffentlichten Umfragen nicht eingebüßt.
Die Erdbebenkatastrophe hat die Karten neu gemischt. Und Erinnerungen geweckt: 1999 kostete die Bewältigung des Erdbebens viel Zeit und viel Geld. In der Folge verlor die Regierung die Parlamentswahlen 2002. Und die von Erdoğan gegründete Partei AKP trat auf das politische Parkett. Und auch kommende Wahlen könnten aller Voraussicht nach vom Trümmerfeld des Erdbebens geprägt werden.
Am Dienstag verhängte Erdoğan in 10 vom Erdbeben betroffenen Provinzen einen dreimonatigen Ausnahmezustand, der nur wenige Tage vor der geplanten Präsidentschaftswahl endet. Denn diese ist für den 14. Mai anberaumt.
Der Lehrer Ahmet Çeneci sagt gegenüber "Al Jazeera":
Der Ladenbesitzer Çalışkan erklärt, er habe früher für die AKP gestimmt und hätte dies vor einer Woche auch noch getan. Aber jetzt werde die Opposition seine Stimme bekommen:
Das Erdbeben "könnte das Image Erdoğans als mächtiger, autokratischer, aber effizienter Führer wirklich zerstören", prognostizierte Soner Cagaptay vom Washington Institute in der New York Times.
Derweilen gaben alle politischen Parteien der Türkei am Dienstag eine gemeinsame Erklärung ab. Ein seltenes Zeichen der Einigkeit in einem politisch gespaltenen Land, in dem sich Schicksale von Menschen und das Schicksal des Präsidenten nicht zum ersten Mal in Trümmern entscheiden.