Unzählige Gebäude, die dem Erdboden gleich gemacht wurden. Kinder, die aus Trümmern gerettet werden. Spürhunde, die versuchen, Menschen unter den Ruinen zu erschnüffeln. Die Bilder des Erdbebens an der türkisch-syrischen Grenze zeigen nur einen Ausschnitt des Ausmaßes der Verwüstung.
Rund 23 Millionen Menschen sind der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge in der Türkei und in Syrien von den Erdbeben betroffen. Die Zahl der Todesopfer ist inzwischen auf mehr als 10.000 gestiegen, Zehntausende Menschen sind verletzt.
Das Epizentrum des Erdbebens befand sich der US-Erdbebenwarte zufolge in der Westtürkei, in der Nähe der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Gaziantep. Die Erschütterungen waren in der gesamten Zentraltürkei, in Nordsyrien sowie in Zypern, Libanon, Griechenland und Israel zu spüren.
Besonders prekär ist die humanitäre Lage in den ohnehin schon vom Bürgerkrieg geplagten Städten Aleppo und Idlib. Bereits vor dem Erdbeben sind im Norden Syriens in Folge des Kriegs ganze Provinzen dem Erdboden gleichgemacht und die Infrastruktur stark beschädigt worden.
Für den Wiederaufbau fehlte das Geld. Viele Menschen lebten in fragilen und einsturzgefährdeten Gebäuden oder in Flüchtlingscamps.
Nun sind auch viele dieser Unterkünfte zerstört worden. Den Menschen wurde erneut der Boden unter den Füßen weggezogen. Mark Kaye, Nah-Ost-Direktor des International Rescue Committee (IRC), bezeichnet die Lage in Nordsyrien "eine Krise innerhalb einer Krise innerhalb einer Krise".
Die Lage eines Landes, das bereits unter den Folgen des Bürgerkriegs leidet:
Krankenhäuser und Kliniken werden mit Verletzen überflutet, die Flure seien überfüllt, es fehle an Personal und Ausrüstung, berichtet die südafrikanische Nichtregierungsorganisation Gift of the Givers, die Erdbebenhilfe in Syrien leitet.
Der britische Arzt Shajul Islam, der seit sieben Jahren in einem Krankenhaus in der Stadt Idlib arbeitet, spricht von den "schlimmsten Tagen" seiner Laufbahn.
Gegenüber der Nachrichtenagentur AP sagt er: "Ich entferne einen Patienten vom Beatmungsgerät und setze das Gerät sofort beim nächsten Patienten ein. Dazwischen muss ich entscheiden, welcher Patient die größere Überlebenschance hat."
Gerade weil viele Krankenhäuser in der Gegend aufgrund des Krieges nicht betriebsfähig seien, kämpfe man nun mit einer enormen Überlastung des Gesundheitswesens.
Doch auch aufgrund von fehlenden Ressourcen komme es in den Krankenhäusern zu einer länger werdenden Warteschlange. "Die meisten Menschen, die aus den Trümmern gerettet wurden, haben schwere Verletzungen, die eine spezielle Behandlung und fortschrittliche Ausrüstung erfordern", sagt der syrische Arzt Osama Salloum gegenüber BBC. Das Problem: In dem Krankenhaus in Aleppo, in dem er arbeitet, gebe es nur einen alten Computertomografen.
Die Rettungsteams seien an ihre Grenzen gestoßen, aufgrund des Personalmangels habe man viele Gegenden noch nicht erreichen können, wie Salloum berichtet. Das Ausmaß der Katastrophe könne man deshalb noch nicht abwägen.
Erschwert wird die Katastrophenhilfe auch aufgrund der geschlossenen Grenzen. Patientinnen und Patienten können nicht in die Türkei überwiesen werden. Zudem ist die Einreise in den Nordwesten Syriens, die von den Rebellen gehaltene Enklave des Landes, erschwert.
Die Regierung in Damaskus lässt die Einfuhr von Hilfsgütern nur über einen kleinen Grenzübergang an der türkischen Grenze zu. Die UNO arbeite derzeit an einer Lösung.
In Nordsyrien befinden sich viele Flüchtlingsunterkünfte von rund 6,8 Millionen Binnenvertriebenen. In den Lagern leben auch rund 62.000 palästinensischen Flüchtenden. Bis jetzt. Denn: Viele dieser Lager sind durch die Erdbeben zerstört worden.
Die Menschen der beschädigten Unterkünfte sind der Nachrichtenagentur Reuters zufolge Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt sowie starken Regenfällen ausgesetzt. Viele haben Schutz in Bussen gesucht, um sich aufzuwärmen und weil sie sich vor weiteren Erdbeben fürchteten.
Die aktuelle Situation reißt alte Wunden auf. Der syrische Arzt Sallom erinnere die aktuelle Lage stark an die Bombenanschläge in Aleppo, als zahlreiche Häuser zerstört und Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben kamen.
Unter den Trümmern liegt wohl auch die Hoffnung nach einer nachhaltigen Stabilisierung des Landes begraben.
Dies bestätigt die Prognose von Carsten Hansen, Regionaldirektor für den Nahen Osten beim Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC): Die Katastrophe wird das Leid der Syrer verschlimmern, die bereits mit einer schweren humanitären Krise zu kämpfen haben.
Millionen von Menschen seien bereits aus ihrer Heimat in eine andere Region vertrieben worden – jetzt würden noch viel mehr durch Katastrophe vertrieben werden.