Sajid Javid (l.) und Rishi Sunak sind nicht länger Boris Johnsons Gefolgsleute.Bild: ap / Toby Melville
Analyse
Der britische Premierminister Boris Johnson hat in seiner knapp dreijährigen Amtszeit diverse Skandale überstanden. Die jüngste Affäre aber könnte eine zu viel gewesen sein.
Peter Blunschi / watson.ch
An Selbstbewusstsein hat es Boris Johnson nie gemangelt. Am Commonwealth-Gipfel in Ruanda erklärte der 58-Jährige kürzlich, er könne sich vorstellen, bis Mitte der 2030er-Jahre im Amt zu bleiben. Damit würde er sogar Tory-"Übermutter" Margaret Thatcher übertreffen. Nun aber fragen sich viele, ob BoJo am Ende dieser Woche noch Premierminister sein wird.
Derzeit erlebt Johnson die schwierigste Phase seiner erst knapp dreijährigen, turbulenten Amtszeit. Am Dienstagabend kam es zum Paukenschlag, als Schatzkanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, zwei Schwergewichte im Kabinett, ihren Rücktritt erklärten. Auch mehrere Staatssekretäre legten aus Protest ihre Ämter nieder.
Chris Pincher hat den Skandal verursacht, der Johnson zu Fall bringen könnte.Bild: dpa / Aaron Chown
Anlass war die jüngste von diversen Affären, mit denen sich Boris Johnson herumschlagen musste, seit er die Nachfolge der glücklosen Theresa May angetreten hatte. Es geht um den Abgeordneten Chris Pincher. Der war auf einen hohen Fraktionsposten im Unterhaus befördert worden, obwohl er in einem noblen Londoner Club zwei Männer begrapscht hatte.
Abwiegeln und leugnen
Der Premierminister tat so, als habe er von nichts gewusst, ehe er zugeben musste, dass er vor der Beförderung über den Skandal informiert worden war. Es war sein übliches Muster: Abwiegeln und leugnen, bis sich die Fakten nicht mehr widerlegen lassen. Schon in der Affäre um Lockdown-Partys an seinem Amtssitz hatte sich Johnson ähnlich verhalten.
Einen "Putschversuch" in der konservativen Fraktion wegen "Partygate" hatte der Premier Anfang Juni noch überstanden. Allerdings stimmten 41 Prozent der Tory-Abgeordneten für seine Absetzung. Es war eine deftige Ohrfeige. Die Pincher-Sexaffäre könnte nun selbst für den Überlebenskünstler Boris Johnson eine zu viel gewesen sein.
Garant für den Brexit
Die britischen Medien jedenfalls reagierten heftig auf den Aufruhr in der Regierung. Die "Times", ein Leitmedium der britischen Konservativen, forderte den Regierungschef unter dem Titel "Game over" zum Rücktritt auf. Und die stramm rechte "Daily Mail" fragte auf der Frontseite in gewohnt krawalliger Manier, ob das "ölige Ferkel" Boris sich erneut herauswinden könne.
Der in die Ecke gedrängte Premier suchte den Befreiungsschlag, indem er den bisherigen Bildungsminister Nadhim Zahawi zum Schatzkanzler ernannte. Weitere Kabinettsmitglieder stellten sich hinter ihn, besonders die Brexit-Hardliner. Für sie bleibt Johnson offenbar der beste Garant dafür, dass Großbritannien beim EU-Austritt auf Kurs bleibt.
Betteln um zweite Chance
Noch am Dienstag habe der Regierungschefs mit dem Argument "Jeder verdient eine zweite Chance" die Runde im Unterhaus-Café gemacht, schreibt der "Guardian". Nur sei die echte Zahl an Chancen nach Johnsons früheren Fehltritten weit höher, meinte das linksliberale Blatt. Seit seinem Amtsantritt im Juli 2019 pflastern Affären seinen Weg.
Es begann damit, dass er das Parlament, das Theresa May beim Brexit das Leben schwer gemacht hatte, in die Zwangsferien schicken wollte. Boris Johnson wurde vorgeworfen, er habe in diesem Zusammenhang sogar die Queen belogen. Es folgten ein chaotisches Pandemie-Management, Partygate und die Luxusrenovierung seiner Dienstwohnung.
Noch 23 Prozent Zustimmung
Auf der Plus-Seite steht, dass der Premier die Tories im Dezember 2019 mit dem Slogan "Get Brexit Done" zu einem erdrutschartigen Wahlsieg geführt und den Austritt aus der EU durchgeboxt hatte – wenn auch mit heftigen Nebenwirkungen. Bei der Wählerschaft war der blonde Exzentriker trotz seines lockeren Umgangs mit der Wahrheit lange beliebt.
Premierminister Boris Johnson.Bild: dpa / Frank Augstein
Mittlerweile sind seine Zustimmungswerte auf 23 Prozent gefallen. Den Unmut in der Bevölkerung, der auch durch die steigenden Energiepreise und die allgemeine Inflation – sie ist im Königreich höher als in der Eurozone – geschürt wird, bekamen die Konservativen zu spüren, als sie bei zwei Nachwahlen für das Unterhaus eine krachende Niederlage erlitten.
Neues Misstrauensvotum?
Mit unpopulären Partei- und Regierungschefs pflegten die Briten schon früher kurzen Prozess zu machen. Das bekam selbst Maggie Thatcher zu spüren. Als sie 1990 nach fast zwölf Jahren im Amt immer unbeliebter wurde und sich mehrere Minister von ihr abgewendet hatten, wurde sie von den eigenen Leuten gegen ihren Willen zum Rücktritt gedrängt.
Boris Johnson droht ein ähnliches Schicksal. Ein neues Misstrauensvotum ist im Prinzip erst in knapp einem Jahr möglich, doch unter seinen internen Kritikern sind Bestrebungen im Gang, die entsprechende Regel zu ändern. Man sollte nicht darauf wetten, dass der Premier noch lange im Amt bleiben wird – schon gar nicht bis in die 2030er Jahre.
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