Ein Anti-Brexit-Aktivist bei einer Demonstration in London. "Brexit funktioniert nicht" steht auf seinem Schild.Bild: www.imago-images.de / Pietro Recchia
Analyse
Es war wie ein Knall: Am 23. Juni 2016 stimmten die Briten mit 52 zu 48 Prozent für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union. Der Brexit wurde somit eingeleitet. Großbritannien wollte nicht mehr dazugehören. Bis aus dem Volksbegehren allerdings Realität geworden ist, hat es noch eine Weile gedauert. Großbritannien und die Europäische Union konnten sich nicht auf die Bedingungen einigen.
Am 31. Januar 2020 kam er, der Brexit.
Am 1. Mai 2021 ist dann das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen Großbritannien und der EU in Kraft getreten. Ein Last-Minute-Abkommen, um totales Handelschaos zu vermeiden.
Ein Brexit-Gegner protestiert im Februar 2022 vor dem Houses of Parliament in London.Bild: SOPA Images via ZUMA Press Wire / Thomas Krych
Eine weitere Einigung: Das Nordirland-Protokoll. Es sollte vermeiden, dass der auf Eis gelegte Konflikt auf der Insel erneut ausbricht. In den 90er-Jahren wurden die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nordirland durch das Karfreitagsabkommen befriedet. Die Insulaner haben gerade bei der Wahl die katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein zur stärksten Macht in Nordirland gemacht.
Sinn Fein will in den kommenden zehn Jahren eine Volksabstimmung in der britischen Provinz Nordirland über eine Vereinigung mit dem EU-Staat Irland abhalten. Die führenden Köpfe dieses Ansinnens hoffen, dass ihnen der Brexit und die damit verbundenen Entwicklungen in die Hände spielen.
Die Sinn-Fein-Mitglieder Mary Lou McDonald (rechts) und Michelle O'Neill.Bild: PA Wire / Niall Carson
Wie geht es Großbritannien heute mit dem Brexit? Ist die Lage so schlecht wie prognostiziert?
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Opinium bewerteten im Dezember 2021 mehr als sechs von zehn Briten den Brexit als negativ oder schlechter als erwartet. Dem "Observer" zufolge, der die Umfrage in Auftrag gab, haben sogar 42 Prozent derjenigen, die beim Brexit-Referendum für den Austritt gestimmt hatten, eine negative Meinung.
"Wir sehen nun, dass eine signifikante Minderheit der 'Leave'-Wähler sagt, dass die Dinge schlecht laufen oder zumindest schlechter als erwartet", sagte der Meinungsforscher Adam Drummond von Opinium. Statt zwei verhärteter Fronten aus Befürworten und Gegnern des Brexits sei sogar die Gruppe der "Leave"-Wähler selbst mittlerweile gespalten.
Denn mittlerweile bekommt Großbritannien zu spüren, was der Brexit für die Inseln bedeutet: Personalengpässe, unterbrochene Lieferketten und weniger Auswahl an europäischen Produkten.
Leere Supermarktregale in England.Bild: picture alliance / Photoshot
In Erinnerung geblieben ist die Tankstellenproblematik. Weil LKW-Fahrer, die in Vor-Brexit-Zeiten oft aus dem östlichen EU-Ausland kamen, fehlten, mussten Tankstellen schließen. Sprit wurde im Herbst 2021 in England zur Mangelware. Auch Bilder von teilweise leeren Supermarktregalen machten die Runde.
Besonders laut war auch der Fischereistreit: Dabei ging es um Fischereilizenzen für europäische Fischer vor den britischen Inseln. Um eine Lizenz zu erhalten, muss ein Fischer nachweisen, dass er zuvor in diesen Gewässern aktiv war. Zwischen England und Frankreich ist es deshalb zum Streit gekommen. Und auch mit Norwegen gab es Streit um Makrelen und Heringe.
Zwischen Frankreich und Großbritannien kam es zu Fischereistreitereien.Bild: www.imago-images.de / Laurent Coust
Schwierige Handelsbeziehungen zwischen EU und Großbritannien
Aber nicht nur auf der Insel und in den Fischerbooten macht sich der Brexit bemerkbar. Der Handel zwischen der EU und Großbritannien ist seither komplizierter geworden: Unternehmen auf beiden Seiten haben sich an diverse Formalitäten zu halten. Britische Exporteure müssen nachweisen, dass ihre Waren tatsächlich in Großbritannien hergestellt wurden; europäische Exporteure die Herstellung in der EU. Außerdem müssen Nachweise für die Einhaltung der EU-Regeln zur Lebensmittelsicherheit und zur Einhaltung von Produktstandards vorgewiesen werden.
Wie sehr der Brexit den Beziehungen geschadet hat, zeigt ein Bericht von KPMG (ein globales Netzwerk selbstständiger Unternehmen im Bereich Wirtschaftsprüfung) und der Britischen Handelskammer in Deutschland (BCCG) aus dem April 2022. "Der Brexit hat im Jahr 2021 – wie befürchtet – zu signifikant höheren Kosten für Verwaltung, Logistik, Zölle, Finanzierung und IT-Anpassungen bei gleichzeitig gesunkenen Umsatzerlösen geführt", schreiben Andreas Glunz von der KPGM und BCCG-Präsident Michael Schmidt in dem Papier, das der Deutschen Presse-Agentur in einer Vorabfassung vorlag.
Die Zahlen sind ernüchternd: Das Volumen des deutsch-britischen Außenhandels sank 2021 erstmals auf unter 100 Milliarden Euro. Deutsche Exporte nach Großbritannien fielen seit 2015 um 27 Prozent. Im Gegensatz dazu legten weltweite Ausfuhren um 15 Prozent zu. An der Umfrage von BCCG und KPMG zum German-British Business Outlook, die vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine durchgeführt wurde, beteiligten sich zwar nur 69 Unternehmen. Tendenzen lassen sich dennoch erkennen.
So nimmt die Bedeutung des britischen Markts ab. Immer weniger Unternehmen erwirtschaften zwischen 20 und 50 Prozent ihres globalen Handelsvolumens in Großbritannien. Zudem erwartet mehr als die Hälfte der befragten Firmen, dass die britische Wirtschaft in fünf Jahren geschrumpft sein wird – für die EU und Deutschland erwartet dies hingegen nur ein Zehntel.
Der britische Premierminister Boris Johnson vor der Downingstrees Nummer 10.Bild: ap / Stefan Rousseau
Nachwirkungen bis heute spürbar
Wie das Medium "Euractiv" berichtet, ist das Spaltungspotenzial durch den Brexit noch immer hoch. Das gehe aus Daten des akademischen Think-Tanks "Britain in a Changing Europe" hervor. Die durch den Brexit entstandene Polarisierung habe sich auf verschiedene politische Debatten ausgewirkt.
Weder hätte sich die Brexit-Kluft im Land mittlerweile geschlossen, noch hätte der Brexit aus Sicht der Briten die Demokratie verbessert. Uneinigkeit herrscht auch bei der Bewertung des globalen Einflusses des Vereinigten Königreichs durch die britische Bevölkerung. Mittlerweile hätten sich außerdem mit einem gleichmäßigen Verhältnis von 52 zu 48 Prozent für einen Wiedereintritt in die EU ausgesprochen.
Nordiren protestieren bei einem Besuch des britischen Premiers gegen die Aufkündigung des Nordirland-Protokolls.Bild: dpa / Peter Morrison
Statt sich um diese Probleme zu kümmern, will der britische Premier nun die Brexit-Freiheiten nutzen, um imperialen Maßeinheiten wie der Unze neue Bedeutung zu geben. Pünktlich zum Thronjubiläum der Queen will Johnson einen öffentlichen Beratungsprozess dazu beginnen. Debattiert werden soll darüber, wie die Einheiten Pfund, Unze oder Yard künftig wieder genutzt werden könnten, das berichteten mehrere britische Zeitungen.
Insgesamt lässt die Brexit-Bilanz also zu wünschen übrig. Um den innerbritischen Handel zu erleichtern, hatte die Johnson-Regierung nach der Wahl in Nordirland außerdem angekündigt, das Protokoll einseitig aufzukündigen. Dieses stellt den Frieden auf der Insel sicher, indem es die Grenze zur Republik Irland nicht zu einer harten Zollgrenze werden ließ. Stattdessen liegt die Zollgrenze nun zwischen Nordirland und den anderen britischen Inseln.
Macht die britische Regierung ernst, könnte sie nach dem Brexit mit all seinen sozialen Härten auch wieder zu gesellschaftlichen Unruhen führen.
(Mit Material von dpa)
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