Ein Waffensystem, das allein dafür da ist, so viel Zerstörung wie möglich anzurichten: Streumunition wird als Bombe aus einem Flugzeug abgeworfen oder auch als Rakete mit Haubitzen, Artilleriegeschützen und Raketenwerfern verschossen, eine Vielzahl von kleineren Sprengsätzen – genannt Bomblets – werden dabei freigesetzt.
Einen solchen Angriff soll Russland nun auch in der Ukraine verübt haben, das berichtet die Menschrechtsorganisation Human Rights Watch und beruft sich auf Augenzeugenberichte.
Den Angaben der Organisation zufolge seien bei einem Angriff nahe einer Klinik in der ostukrainischen Stadt Wuhledar vier Menschen getötet worden. Diese Angaben beruhen auf Aussagen von Augenzeugen und Fotomaterial.
Was bedeutet so ein Angriff – für Menschenleben, aber auch politisch?
In den folgenden drei Absätzen werden Gewalthandlungen und deren Folgen für Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Streubomben sind nicht nur während des aktiven Angriffs besonders gefährlich. Eine große Zahl der Bomblets explodiert nämlich zunächst nicht und bleibt als Blindgänger im Boden stecken. So stellen sie noch Jahrzehnte nach dem Angriff eine Bedrohung dar. Sie können bis zu 50 Zentimeter tief in die Erde eindringen. Sie sind unberechenbar und extrem empfindlich, bei der kleinsten Bewegung oder Berührung könnten sie explodieren.
Durch diese Explosionen werden die Opfer meist schwer verletzt, einige sterben auch. Die häufigsten Verletzungen sind: Erblindung, Verbrennungen, Splitterverletzungen und Verstümmelungen an Beinen oder Armen.
Kinder sind die wahrscheinlichsten Opfer solcher Blindgänger, da die Sprengsätze meist bunten Getränkedosen oder Tennisbällen ähneln. Sie verwechseln sie deshalb leicht mit Spielzeug oder kleinen Packungen aus Hilfspaketen aus der Luft, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung in ihrem Bericht schreibt. Bauern und Dorfbewohner, die auf dem Feld arbeiten, werden demnach ebenfalls oft verletzt.
2008 haben mehr als 100 Staaten die sogenannte Streubomben-Konvention unterschrieben: ein internationales Abkommen, das jegliche Verwendung, Herstellung, Weitergabe und Lagerung von Streumunition, auch Clustermunition genannt, verbietet. 2010 ist das Abkommen in Kraft getreten.
Weder Russland noch die Ukraine sind Teil der Konvention von 2008, wie Militär-Experte Niklas Masuhr erklärt. Masuhr ist Analyst beim Züricher Zentrum für Sicherheitsstudien. Als Mitglied des Global Security Teams forscht er dort zu zeitgenössischen Konflikten.
Belangt werden kann Russland allein wegen der Nutzung dieses Waffensystems also nicht. Es ist aber davon auszugehen, dass internationale Gerichte darüber beraten werden, ob es sich bei dem Raketenangriff um ein Kriegsverbrechen handelt. Dabei wird auch darüber geurteilt, ob bewusst in Kauf genommen wurde, dass es zivile Opfer gibt.
Erstunterzeichner der Konvention war am 3. Dezember 2008 der damalige norwegische Ministerpräsident und heutige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ihm folgten die Vertreter aus Laos und dem Libanon. Zu den insgesamt 94 Erstunterzeichnen zählten unter anderem Australien, Frankreich, Spanien, Italien, Japan, Kanada und das Vereinigte Königreich. Für Deutschland unterzeichnete der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Abkommen.
Masuhr sagt auf Anfrage von watson: "Das Aufgeben von Clustermunition war für westliche Staaten einfach, da man davon ausging, keine konventionellen Kriege mehr zu führen." Ähnlich verhalte es sich auch beim Einsatz von Minen. "Entsprechend konnte man damals leichter freiwillig aus humanitären Gründen auf diese Waffen verzichten", so Masuhr.
Die Ukraine sei nach der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim 2014 in einer ganz anderen Situation. Und Masuhr sagt zudem: "Auch in der NATO wird dieser Schritt – zumindest auf Seiten von Militärs und Beobachtern – mittlerweile mancherorts bereut."
Dass das russische Militär nicht auf den Einsatz von Streumunition verzichte, erklärt Masuhr weiter, wisse man spätestens seit dem Krieg in Syrien. "Sowohl die Luftwaffe dort, als auch russische Artillerieeinheiten verfügen über diese Munition und haben wenig Skrupel bewiesen."
Doch Masuhr sagt auch, es sei möglich, dass auch die Ukraine im aktuellen Krieg Streumunition verwendet oder verwenden wird.
Er meint, beide Seiten verwendeten ähnliche Waffensysteme, die Ukrainer häufig jedoch ältere Versionen, da nach 2014 keine Upgrades mehr gemacht worden seien. Beide Seiten nutzten zudem Tochka, das sind sowjetische taktische ballistische Rakete. Damit hätten ukrainische Streitkräfte wohl beispielsweise russische Kampfflugzeuge auf der Luftwaffenbasis Millerovo zerstört.
Streubomben gibt es schon lange. Das erste Mal sind Streubomben im Zweiten Weltkrieg von deutschen und russischen Streitkräften eingesetzt worden. Seitdem sind sie immer wieder von vielen anderen Militärs verwendet worden.
Laut der Bundeszentrale für Politische Bildung kamen die meisten Streubomben während des Golfkrieges 1991 durch die USA und ihre Alliierten zum Einsatz. Im Laufe eines Monats sollen 61.000 Streubomben mit 20 Millionen Bomblets abgeworfen sein worden.
Im Libanon kamen selbst ein Jahr nach dem Waffenstillstand mehr als 200 Zivilisten Streubomben um, die Israel 2006 dort eingesetzt hatte. Dies war der Auslöser für die Streubomben-Konvention 2008.