Ein Kovoi der russischen Armee in der Umgebung von Mariupol im Mai.Bild: www.imago-images.de / imago images
Analyse
Die russische Armee wollte im Osten der Ukraine einen Fluss überqueren und scheiterte kläglich. Jetzt wird Kritik in Russland laut.
17.05.2022, 13:4310.06.2022, 11:26
Corsin Manser / watson.ch
Es läuft nicht gut für die russische Armee. Nach der Blamage vor Kiew kommen Putins Truppen auch im Osten und Süden der Ukraine nicht voran. Sinnbild für das russische Desaster ist die misslungene Überquerung des Siwerskyj Donez bei Bilohoriwka. Die russische Armee wollte den Fluss überwinden, um bei der Stadt Lyssytschansk ukrainische Soldaten zu umzingeln. Doch der Plan ging gründlich schief.
Russland wollte eine Pontonbrücke errichten, um rund 550 Soldaten über den Fluss zu bekommen. Als sich die russischen Truppen eng konzentriert beim Übergang befanden, schlug die ukrainische Artillerie zu.
Sie zerstörte nicht nur die Brücke und Dutzende Panzer. Beim ukrainischen Angriff sollen nicht weniger als 485 russische Soldaten getötet worden sein, wie das Institute for the Study of War (ISW) schreibt. Die ukrainische Armee spricht sogar von 1000 bis 1500 Toten.
Was sich am Siwerskyj Donez abspielte
Lokalisiert wurde der Überquerungsversuch von der 17. Panzerbrigade, wie das ukrainische Verteidigungsministerium schreibt. Ein ukrainischer Offizier namens Maxim behauptet, den Angriff koordiniert zu haben.
Er hatte herausgefunden, wo die Brücke wahrscheinlich gebaut werden sollte. Am 6. und 7. Mai erkundete er das Gebiet rund um Bilohoriwka, da ukrainische Fronteinheiten meldeten, dass sich russische Truppen auf der gegenüberliegenden Flussseite zusammenziehen würden.
Am Morgen des 8. Mai sollen die Russen mit dem Bau der Schwimmbrücke begonnen haben, erzählt Maxim auf Twitter. Er hatte seine Kameraden angewiesen, auf Motorgeräusche zu hören, da die Russen für den Brückenbau Motorboote benötigen würden.
Nachdem seine Kameraden die Geräusche der Motorboote gehört hatten, flog Maxim mit einer Drohne los und konnte den russischen Überquerungsversuch bestätigen. Umgehend informierte er seine Befehlshaber. "Die Russen versuchten, eine Brücke genau an der Stelle zu errichten, an der ich sie vermutet hatte", so Maxim. Die ukrainische Artillerie sei deswegen bereit für den Angriff gewesen.
Russische Soldaten in der Region Lugansk inspizieren einen ehemaligen ukrainischen Militärstützpunkt. Bild: www.imago-images.de / imago images
Den Russen sei es zunächst gelungen, einige Truppen und Fahrzeuge über den Fluss zu bringen, berichtet Maxim. Dann seien die "heftigsten Kämpfe", die er je erlebt habe, losgegangen. Die Ukraine griff mit schwerer Artillerie an und hatte Unterstützung durch die Luftwaffe.
"Einige russische Truppen (ca. 30-50 Fahrzeuge + Infanterie) saßen auf der ukrainischen Seite des Flusses fest und hatten keinen Weg zurück."
Und weiter: "Nach einem Tag der Kämpfe, am Morgen des 9. Mai, war die Brücke zusammengebrochen. Einige russische Truppen (ca. 30-50 Fahrzeuge + Infanterie) saßen auf der ukrainischen Seite des Flusses fest und hatten keinen Weg zurück. Sie versuchten, über die zerstörte Brücke zu fliehen. Dann versuchten sie, eine neue Brücke zu errichten."
Doch auch der zweite Versuch der Russen, eine Brücke zu bauen, sollte scheitern. "Die Luftwaffe begann mit schweren Bombenangriffen auf das Gebiet und zerstörte alle Überreste der Russen dort sowie weitere Brücken, die sie zu bauen versuchten", so Maxim. "Ihr strategisches Ziel war es, den Fluss zu überqueren und dann Lyssytschansk einzukesseln. Sie scheiterten kläglich." Die Angaben von Maxim lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Innerrussische Kritik
Ausgebrannte Fahrzeuge, versenkte Panzer und zerstörte Brücken: Die Bilder, die sich nach dem gescheiterten Überquerungsversuch präsentieren, sind aus russischer Sicht verheerend. Das folgende YouTube-Video gibt einen guten Eindruck zum Ausmaß der Verluste.
"Die russischen Streitkräfte haben bei dem Versuch einer gross angelegten Überquerung erhebliche taktische Fehler gemacht", konstatiert das in Washington ansässige ISW. Von einem "erheblichen Rückschlag" spricht der australische Militär-Experte Mick Ryan. Die Russen hätten nicht nur knappes technisches Brückenmaterial verloren, so Ryan, sondern wahrscheinlich auch Kampfingenieure. "Und diese sind während einer Offensive sehr gefragt."
Vernichtend ist das Fazit jedoch nicht nur von westlichen Experten. Auch prominente russische Kriegs-Blogger, die teilweise von der Front berichten, sparen nach dem Siwerskyj-Donets-Desaster nicht mit Kritik. Normalerweise würden diese ganz im Sinne des Kremls berichten, schreibt die New York Times. Sprich: von erfolgreichen Russen und feigen Ukrainern.
Doch nun ist einigen von ihnen der Kragen geplatzt. "Ich war jetzt seit Längerem ruhig", sagt Juri Podoliaka, der auf Telegram nicht weniger als 1,2 Millionen Follower hat. In einem fünfminütigen Video schimpft er: "Der letzte Strohhalm, der meine Geduld überstrapazierte, waren die Ereignisse um Bilohoriwka, wo aufgrund von Dummheit – ich betone, aufgrund der Dummheit der russischen Führung – mindestens eine taktische Bataillons-Gruppe verbrannt wurde, möglicherweise sogar zwei."
Damit nicht genug. Podoliaka macht sich über die Erzählung des Kremls lustig, wonach "alles nach Plan läuft". In Wahrheit fehle es der russischen Armee an unbemannten Drohnen, Nachtsichtgeräten und anderem Ausrüstungsmaterial.
Er verstehe ja, dass es im Krieg Probleme geben könne, so Podoliaka. "Aber wenn die gleichen Probleme drei Monate lang andauern und sich nichts zu ändern scheint, dann fange ich persönlich und Millionen von Bürgern der Russischen Föderation an, Fragen an die Leiter der Militäroperation zu stellen." Starker Tobak, was Podoliaka von sich gibt. Vor allem, wenn man bedenkt, was kritischer Presse in Russland droht.
"Wie idiotisch muss man sein, um das nicht zu verstehen?"
Doch Podoliaka ist nicht der Einzige. "Die Offensive im Donbass wird nicht nur durch den Mangel an Aufklärung und Informationen behindert, sondern auch durch die Generäle. Bis wir den Namen dieses 'Militärgenies' erfahren, das das Bataillon in der Nähe des Flusses stationiert hat, wird es keine Reformen in der Armee geben", schreibt Militär-Blogger Wladlen Tatarski, dem auf Telegram 330.000 Menschen folgen. "Die Offensive im Donbass verlangsamt sich, nicht nur wegen des Mangels an effektiver Aufklärung durch Drohnen, sondern auch wegen solcher Generäle." Wenn es keine Personalveränderungen gebe, werde der nächste "Idiot" wieder ein Bataillon verbrennen.
Ähnlich viele Follower wie Tatarsky hat der Blogger "Starshe Eddy". Er geht mit den russischen Befehlshabern ebenfalls hart ins Gericht. "Hatte der Kommandant des Übergangs bei Bilohoriwka nicht die Information, dass es im dritten Kriegsmonat nicht möglich ist, in großen Kolonnen zu reisen und sie in einem engen Bereich vor einer Wasserbarriere zu sammeln?", schreibt "Starshe Eddy". Der Blogger spricht gar von Sabotage. "Wie idiotisch muss man sein, um das nicht zu verstehen? Wobei das vielleicht kein Schwachsinn ist, sondern direkte Sabotage. Das würde diese Situation, ehrlich gesagt, viel einfacher erklären."
Die Kritik der russischen Blogger könnte gemäß ISW einen Effekt auf die Wahrnehmung des Krieges in Russland haben. "Menschen, die mit strikter Zensur unter einem autoritären Regime leben, vertrauen scheinbar unabhängigen Einzelstimmen häufig mehr als der offiziellen Propaganda." Deshalb könnte das Narrativ des Kremls immer weiter unter Druck geraten. "Die Einschätzung dieser weithin gelesenen Blogger könnte die aufkeimenden Zweifel an einem russischen Sieg in der Ukraine befeuern."