Ein ukrainischer Soldat nahe der Frontlinie in der Ukraine.Bild: dpa / Vadim Ghirda
watson antwortet
15.02.2022, 06:4210.06.2022, 11:15
Auf Satellitenbildern sind Flugzeuge und Panzer zu sehen. 110.000 russische Soldaten warten an der Grenze zur Ukraine auf ihren Einsatz. Nach Einschätzungen der US-Geheimdienste fehlen nur 40.000 Soldaten, bis eine Besetzung der Ukraine realistisch wäre. Der russische Präsident Wladimir Putin und seine Armee bereiten sich vor.
Die Gefahr ist "hoch" und die Bedrohung "unmittelbar" – so beschreibt der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Und er wird noch konkreter: "Russland könnte in sehr kurzer Zeit den Befehl zu einer großen Militäraktion gegen die Ukraine geben", warnt er.
Laut Informationen der CIA, des US-Auslandsgeheimdienstes, könnte diese "kurze Zeit" schon am Mittwoch vorbei sein. Wie der "Spiegel" berichtet, setzten sowohl die CIA als auch das US-Militär die Bundesregierung um Olaf Scholz und andere Nato-Staaten am vergangenen Freitag über einen russischen Angriff auf die Ukraine in Kenntnis. Er soll schon am Mittwoch erfolgen.
Mittwoch – das wäre der Tag, nach dem Bundeskanzler Olaf Scholz zu Wladimir Putin nach Moskau reisen wird. Das verdeutlicht auch die Wichtigkeit der Gespräche mit dem osteuropäischen Land. Am Valentinstag ist Scholz zu Besuch in Kiew.
Auf Twitter verkündet Olaf Scholz bereits am Montagmorgen, dass er der Ukraine "fortdauernde Solidarität und Unterstützung" zusichern wolle und von Moskau "dringend Zeichen der Deeskalation" erwarte. Er spricht weiter von einer "sehr, sehr ernsten Bedrohung des Friedens in Europa".
Doch wie wahrscheinlich ist es, dass am Mittwoch mitten in Europa ein Krieg ausbricht? Und welche Mittel hat Olaf Scholz gegenüber Russland, um die Situation doch noch zu entschärfen? Watson hat darüber mit zwei Experten gesprochen: Janis Kluge, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie dem stellvertretenden Direktor der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, Heiko Pleines.
Sie haben Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Kriegsgefahr an der russisch-ukrainischen Grenze gegeben.
Wie wahrscheinlich ist es, dass am Mittwoch ein Krieg ausbricht?
Eine Eskalation ist möglich, aber noch ist nichts sicher. Am Freitag hat der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, offen vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine noch vor Ende dieser Woche. Als mögliches Datum rechnet der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA mit Mittwoch, dem 16. Februar. So konkret war es in diesem Konflikt bisher noch nie zuvor geworden.
Im Umfeld von Bundeskanzler Olaf Scholz wird die Lage laut Informationen der Nachrichtenagentur dpa als "extrem gefährlich" eingestuft. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) spricht am Sonntagabend in der ARD von einer "absolut brenzligen Situation". Allerdings gebe es keine Anzeichen dafür, "dass eine kriegerische Auseinandersetzung schon beschlossene Sache ist".
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat in der vergangenen Woche die Ukraine besucht.Bild: dpa / Bernd von Jutrczenka
Russland spricht dagegen von "provokativen Spekulationen" und "Hysterie". Trotzdem haben etliche westliche Länder mittlerweile damit begonnen, ihre Staatsbürgerinnen und -bürger aufzufordern, die Ukraine zu verlassen. Auch Diplomaten werden ausgeflogen.
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, sieht in Scholz Besuch in Moskau möglicherweise "die letzte Chance" für eine diplomatische Lösung des Konflikts. Das erklärt der Diplomat gegenüber dem Sender "BildTV". Seine Regierung mache sich auf das "schlimmste Szenario" gefasst, nämlich "dass die Hauptstadt vielleicht schon in den nächsten Tagen bombardiert werden kann", erklärt Melnyk.
Die Entscheidung, ob Russland in die Ukraine einmarschieren wird oder nicht, liegt letztlich allerdings bei Russland und Wladimir Putin. "Auch die CIA kann nicht in seinen Kopf sehen und er kann es sich auch kurzfristig anders überlegen", schreibt Osteuropa-Experte Heiko Pleines auf watson-Anfrage.
Kanzler Scholz zu Besuch bei seinem Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj.Bild: dpa / Kay Nietfeld
Pleines sieht in der Alarmbereitschaft des Westens und der Evakuierung eine Reaktion auf frühere Fehleinschätzungen – konkret erklärt er das Vorgehen mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und dem überstürzten Abzug der Gruppen aus Afghanistan.
Der Osteuropa-Experte meint wörtlich:
"Als Russland 2014 behauptet hat, mit den Besetzungen auf der Krim nicht zu tun zu haben, haben die westlichen Regierungen sich zurückgehalten. Hinterher hat Putin dann in einem Fernsehinterview stolz erklärt, dass natürlich die russische Armee im Einsatz war."
Weiter fährt Pleines fort:
"Ebenso behauptet Russland, dass seine Armee nicht in der Ostukraine sei, obwohl es regelmäßig Gegenbeweise gibt. Wer jetzt russischen Aussagen vertraut, es gebe keine Angriffspläne, steht im Zweifelsfall hinterher als total naiv da. Hinzu kommt wohl auch die Erinnerung an das Debakel beim Abzug aus Afghanistan, wo der Vorwurf war, zu spät evakuiert zu haben. Deshalb dann jetzt in Kiew lieber zu früh ist wohl die Devise."
Die USA haben ihre Staatsbürger, wie weitere westliche Staaten, aufgerufen, die Ukraine zu verlassen. US-Präsident Joe Biden hat in einem Interview klargestellt, dass US-Amerikaner im Fall einer russischen Invasion nicht durch das Militär gerettet würden.
Als Grund nannte der Präsident die Gefahr, dass es bei einer Evakuierungsaktion zu Zusammenstößen mit der russischen Armee kommen könnte und dadurch ein "Dritter Weltkrieg" ausgelöst werden könnte.
Dass der Russland-Ukraine-Konflikt tatsächlich Ausgangspunkt eines weiteren Weltkriegs ist, ist bisher allerdings nur Spekulation Bidens – umgehen möchte er die mögliche Eskalation dennoch.
Kann Kanzler Olaf Scholz (SPD) das Ruder durch seinen Besuch in Russland noch rumreißen?
Jein. Natürlich kann Olaf Scholz allein nicht viel an den russischen Plänen verändern. "Was Scholz wohl versuchen wird – und was de facto auch im Interesse der Ukraine ist – ist, über Verhandlungen einen Weg zu finden, wie Russland ohne Gesichtsverlust seine Armee wieder abziehen kann", schreibt Pleines.
Der französische Staatschef Emmanuel Macron hat Wladimir Putin in Moskau besucht.Bild: Russian Look/via Global Look Pre / Kremlin Pool
Allein dass die Staatschefs von den USA, Frankreich und nun eben auch Deutschland sich die Kreml-Türklinke in die Hand geben, stelle aus Sicht des Experten einen Imagegewinn für die Russische Föderation dar. "Russland hat der Welt klar gezeigt, dass es nicht ignoriert werden kann", erklärt Pleines.
Sinnvoll wäre es aus Sicht des Wissenschaftlers, Abrüstungsverhandlungen aufzunehmen, bei denen beide Seiten Zugeständnisse machen. Trotzdem, stellt Pleines dar, werde es immer Krisen geben, solange Russland die internationalen Spielregeln nicht akzeptiere. Ganz unabhängig von dem Ausgang dieses Konflikts.
Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Montag in Kiew, betont Scholz die Möglichkeit von Sanktionen. Gleichzeitig reicht er Russland allerdings die Hand, indem er einen ernsthaften Dialog über Fragen der europäischen Sicherheit anbietet. Erwartet würden von Russland "eindeutige Schritte zur Deeskalation der gegenwärtigen Spannung", sagt Scholz bei der Konferenz.
Was erwartet die Ukraine von Deutschland?
Kurz und knapp: Unterstützung.
Und zwar in Form von militärischer Ausrüstung, aber auch auf wirtschaftlicher Ebene. Pleines fasst die Erwartungen der Ukraine folgendermaßen zusammen:
"Was die Ukraine aktuell erwartet ist, dass Nato und EU geschlossen und glaubwürdig erklären, dass ein russischer Einmarsch in die Ukraine einen hohen Preis hat, in Form harter Wirtschaftssanktionen. Es geht der Ukraine um Abschreckung. Deshalb sind für die Ukraine auch die Waffenlieferungen so wichtig. Scholz kann aber gleichzeitig als Vertreter des größten Erdgaskunden Russlands auch der Drohung mit Wirtschaftssanktionen Glaubwürdigkeit verleihen."
Die Bitte um Waffenlieferungen hatte Deutschland der Ukraine abgeschlagen. Stattdessen wurden Stahlhelme nach Kiew geschickt.
Vitali Klitschko bei der Kiewer Sicherheitskonferenz im Dezember.Bild: picture alliance / Photoshot
Der Bürgermeister von Kiew, Ex-Boxer Vitali Klitschko, hat die Bundesrepublik in einem Gastbeitrag in der Zeitung "Bild" hart kritisiert. Dort schreibt er: "Das ist unterlassene Hilfeleistung und Verrat an Freunden in einer dramatischen Situation, in der unser Land von mehreren Grenzen von russischen Truppen bedroht wird!"
Insgesamt, so Pleines, gehe es auch um die wirtschaftliche Stabilität der Ukraine, die von der Coronapandemie stark getroffen wurde. "Durch die russischen Drohungen werden jetzt Investoren abgeschreckt. Gerade bei der Reform des Energiesektors könnte Deutschland der Ukraine auch im eigenen Interesse helfen", sagt der Wissenschaftler.
Was bedeuten wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Russland für Deutschland?
"Alle Optionen liegen auf dem Tisch", heißt es dieser Tage immer wieder von führenden Politikern der SPD: Der Vorsitzende der Sozialdemokraten Lars Klingbeil präzisiert diese Aussage folgendermaßen: "Wenn alle Optionen auf dem Tisch liegen, dann liegen wenige bis gar keine daneben. Und ich glaube, das ist an Klarheit nicht zu überbieten diese Aussage."
Konkret bedeutet dieses Versprechen, dass Deutschland bereit ist, Sanktionen mitzutragen, die auch Deutschland treffen könnten, Stichwort Nordstream 2. Die Ostsee-Pipeline, die russisches Gas nach Deutschland befördern soll, aber noch nicht in Betrieb ist. Der US-Präsident Joe Biden hat bereits verkündet, die Pipeline im Fall einer russischen Invasion zu stoppen – wobei er selbst das nicht entscheiden kann, da es ein deutsch-russisches Projekt ist. Von deutschen Politikern bleiben die Aussagen bezüglich Nordstream allerdings eher vage. Scholz hat Biden bei seinem Besuch in Washington allerdings nicht widersprochen, nachdem der US-Präsident den Stopp der Pipeline erwähnt hatte.
Der Ausspruch "alle Optionen liegen auf dem Tisch" bedeutet aber eben auch: Die Gaspipeline ist nicht die einzige Stellschraube. Folgende Sanktionen wären denkbar:
- Ausschluss Russlands vom internationalen Banken-Zahlungssystem Swift
- Nicht-russische Bürger soll es erschwert werden, russische Staatsanleihen zu kaufen – was Moskau in erhebliche Schwierigkeiten brächte
- Einfrieren der westlichen Bankkonten reicher russischer Privatpersonen
- Handelsembargos
- Aussetzen von Computer-Chip-Lieferungen
Bereits seit 2014 – Annexion der Krim – gibt es Sanktionen der EU gegen die Russische Föderation. Dazu gehören Reisebeschränkungen und das Einfrieren von Geldern bestimmter Personen. Außerdem herrscht ein Waffenembargo. Im September 2021 hat der Europäische Rat die Sanktionen gegen Russland erneut um sechs Monate verlängert – stand jetzt gelten sie bis zum 15. März 2022. Da aber die Sanktionen auch mit der Souveränität und Unversehrtheit der Ukraine zusammenhängen, ist davon auszugehen, dass sie erneut verlängert werden.
Die Pipeline Nordstream 2 ist ein mögliches Druckmittel.Bild: Getty Images Europe / Sean Gallup
Besonders Finanzsanktionen könnten Russland aus Sicht des Wirtschaftswissenschaftlers Janis Kluge treffen, ohne Deutschland zu sehr zu schaden. Kluge arbeitet am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Kluge erklärt gegenüber watson:
"Bei einer Sanktionierung von Swift wäre erst einmal der gesamte Außenhandel Russlands betroffen, und damit auch Deutschlands Energieversorgung. Deshalb ist diese Option wenig realistisch. Es könnte aber sein, dass russische Staatsanleihen sanktioniert werden, oder auch russische Banken. Das würde einen großen Effekt haben, ohne Deutschland massiv zu schädigen."
Auch Exportverbote der USA, wie beispielsweise von Computer-Chips, könnten Russland hart treffen.
Sorgen, bald in einer kalten Wohnung zu sitzen, bräuchten sich die Deutschen nicht zu machen.
Die Versorgung mit Öl sei durch einen großen internationalen Markt und strategische Reserven gesichert. Ein möglicher Preisanstieg durch eine Eskalation wäre höchstens an der Tankstelle zu spüren.
Beim Thema Gas verhält sich das Problem aus Sicht des Experten anders. Kluge meint: "Bei Gas gibt es weniger Reserven und ein russischer Lieferstopp würde die Heizkosten drastisch steigern. Aber auch hier wäre in jedem Fall genug Gas da, um die Wohnungen in Deutschland warmzuhalten. Nur wenn Russland mehrere Jahre nicht liefert, wird es kritisch."
Welches Problem hat Russland mit der Ukraine?
Die Spannungen zwischen den beiden Ländern sind keineswegs neu.
Ihren Ursprung finden sie in der unterschiedlichen Auffassung der politischen Ausrichtung. Die Ukraine muss sich fragen: Richtung Westen oder Richtung Osten orientieren? Nachdem der damalige, prorussische Präsident des Landes, Wiktor Janukowitsch, 2013 eine Unterzeichnung des sogenannten Assoziierungsabkommens verweigerte, das die Ukraine stärker an die EU gebunden hätte, ging er stattdessen ein Abkommen unter russischer Führung ein.
Der Konflikt erinnert auch an das Jahr 2014, in dem Russland die Krim annektierte und damit einen Krieg im Osten der Ukraine auslöste. Seitdem sind über 13.000 Menschen in Verbindung mit dem bewaffneten Konflikt gestorben und es wird, trotz vereinbartem Waffenstillstand, bis heute weiter geschossen.
Mitte Dezember 2021 formulierte Kremlchef Wladimir Putin dann eine Liste mit Forderungen nach Sicherheitsgarantien an die USA und ihre Verbündeten: Das westliche Militärbündnis Nato soll die Ukraine nicht aufnehmen und sich auch nicht weiter in den Osten ausdehnen. Außerdem soll die westliche Allianz keine Truppen mehr in den osteuropäischen Nato-Staaten stationieren. China unterstützt diese Forderungen mittlerweile ebenfalls.
US-Präsident Joe Biden mit Außenminister Antony Blinken vor dem Weißen Haus.Bild: ZUMA Press Wire Service / White House
Antony Blinken, der Außenminister der USA, antwortet Ende Januar auf Putins Forderungen mit einem Schreiben an Moskau, in dem er betont, dass alle Staaten weiterhin das Recht hätten, frei zu wählen, welchem Bündnis sie beitreten. Wegen des weiter hochkochenden Ukraine-Konflikts steht aktuell ein Beitritt der Ukraine zur Nato ohnehin nicht zur Debatte.
Jedoch weist das Bündnis die Forderung Russlands, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen, in einem Schreiben zurück. Sie bieten stattdessen dem Kreml an, wieder den Dialog aufzunehmen.
Wie realistisch ist es, keine weiteren Staaten mehr in die Nato aufzunehmen?
Wenn eine der Möglichkeiten von Scholz wäre, Russland tatsächlich zuzusichern, dass die Nato vorerst keine neuen Staaten aufnehmen würde, würde dies auch Schweden und Finnland treffen. Denn in den beiden skandinavischen Ländern, die sich bisher neutral gegenüber dem westlichen Bündnis zeigten, sind deutlich mehr Menschen als noch vor wenigen Monaten für einen Beitritt zur Nato. Ein Aufnahme-Stopp würde also auch unbeteiligte Staaten treffen.
"Wenn die Nato allen diesen Ländern sagt: 'Entschuldigung, aber wenn die Russen nicht wollen, dann nehmen wir euch nicht auf' – dann bekommt Russland ein Vetorecht über Nato-Entscheidungen", erklärt Pleines.
Zudem würde das Militärbündnis vermutlich nicht "für ein Angebot den deutschen Bundeskanzler als Überbringer wählen", betont er.