Im Streit über Brexit-Regeln für die britische Provinz Nordirland hat die EU-Kommission vier neue Verfahren gegen die Regierung in London eingeleitet. Die Brüsseler Behörde warf dem Vereinigten Königreich am Freitag vor, gegen wesentliche Teile des sogenannten Nordirland-Protokolls zu verstoßen. Vertragsverletzungsverfahren können zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof führen und mit einer Geldstrafe enden.
Im Geiste der konstruktiven Zusammenarbeit habe man mehr als ein Jahr von bestimmten Vertragsverletzungsverfahren abgesehen, teilte die EU-Behörde mit. "Die mangelnde Bereitschaft des Vereinigten Königreichs, sich auf eine sinnvolle Diskussion einzulassen, und das fortgeschrittene Verfahren zur Verabschiedung des Nordirland-Protokoll-Gesetzes durch das britische Parlament laufen diesem Geist jedoch direkt zuwider", hieß es.
Konkret gehe es bei den Vorwürfen darum, dass etwa geltende Zollvorschriften nicht eingehalten und bestimmte EU-Vorschriften nicht umgesetzt würden. Großbritannien hat nun zwei Monate Zeit, um zu reagieren.
Der Streit zwischen der EU und Großbritannien über die Umsetzung der Brexit-Regeln dauert schon lange an. Zuletzt hatte die EU-Kommission den Druck auf London im Juni erhöht. Damals startete die Behörde zwei neue Vertragsverletzungsverfahren und nahm ein weiteres wieder auf.
Das Nordirland-Protokoll ist Teil des 2019 geschlossenen Abkommens über den Austritt Großbritanniens aus der EU. Es sieht vor, dass die zum Vereinigten Königreich gehörende Provinz weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion folgt. Damit sollten Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland verhindert werden, um ein Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands zu verhindern.
Grund für die neuen Verfahren ist unter anderem, dass am Mittwoch das britische Unterhaus einen umstrittenen Gesetzentwurf zum Nordirland-Protokoll in dritter Lesung angenommen hatte. Mit dem geplanten Gesetz sollen die Brexit-Vereinbarungen zur britischen Provinz einseitig von London außer Kraft gesetzt werden können. Die EU-Kommission hatte sich zuvor äußerst besorgt ob des Vorhabens gezeigt und Konsequenzen angedroht.
Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es jedoch noch durch die zweite Parlamentskammer, das House of Lords. Das soll nach der Sommerpause geschehen. Im Oberhaus dürfte der Entwurf auf deutlicheren Widerstand stoßen. Sollte sich die Regierung mit den Plänen durchsetzen, dürfte es zu schweren Verwerfungen mit Brüssel kommen. Im schlimmsten Fall droht ein Handelskrieg. Die beiden Kandidaten für die Nachfolge des scheidenden britischen Premiers Boris Johnson, Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak, haben bisher keine Anzeichen erkennen lassen, dass sie in dem Streit eine Deeskalation suchen könnten.
Die Regierung in London will mit dem Gesetzesvorhaben erzwingen, dass Brüssel die erst 2019 im Rahmen des Brexit-Vertrags geschlossene Vereinbarung über den Sonderstatus für Nordirland wieder aufmacht. Die EU-Kommission schließt das strikt aus und will stattdessen über Lösungen im Rahmen der bestehenden Vereinbarung verhandeln.
(nik/dpa)