Nach der jährlichen Ansprache von Wladimir Putin in Moskau ist die russische Regierung am Mittwochnachmittag überraschend geschlossen zurückgetreten. Als Grund dafür nannte der zurückgetretene Ministerpräsident Dimitri Medwedew die geplanten Verfassungsänderungen: „Die Regierung Russlands sollte dem Präsidenten unseres Landes die Möglichkeit geben, alle notwendigen Entscheidungen zu treffen.“
Die von Putin am Mittwoch vorgeschlagene Verfassungsreform sieht vor,dass in der Zukunft die Abgeordneten des Parlaments den Ministerpräsidenten bestimmen sollen. Bisher konnte das Parlament nur über Vorschläge des Staatspräsidenten entscheiden. Gleichzeitig sollen die Kriterien für Präsidentschaftskandidaten verschärft werden. So soll ein Präsidentschaftskandidat mindestens 25 Jahre in Russland gelebt haben, bevor er kandidieren darf. Über die Verfassungsreform solle die Bevölkerung in einem Referendum abstimmen.
Wladimir Putin ist offiziell noch bis 2024 russischer Staatspräsident. Nach bisher geltendem Recht hätte er dann nicht noch einmal für eine dritte Amtszeit kandidieren dürfen.
Die Ereignisse überschlagen sich und es ist nur schwer nachvollziehbar, was hinter den jüngsten politischen Entwicklungen in Russland steckt. Wir haben die Russland-Expertin Sarah Pagung gefragt, warum Putin auf einmal die Macht seines eigenen Amtes einschränkt und warum das ausgerechnet seine eigene Macht stärkt.
"Die Verfassungsänderungen sollen dazu da sein, dass sein Nachfolger keine Gefahr für Putin darstellen wird."
Watson: Was erleben wir da gerade in Moskau?
Sarah Pagung: Putin und Medwedew selbst haben bei der Pressekonferenz bereits den Hinweis dazu gegeben. Putin hält jedes Jahr eine Rede, so wie die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Und in der hat Putin eine Verfassungsänderung angekündigt. Interessant bei diesen angestrebten Verfassungsänderungen ist, dass sie alle dazu da sind, die Macht des Präsidenten zu beschneiden. Das Amt des Präsidenten ist in Russland ohnehin ziemlich stark und Putin hat die Macht in den letzten Jahren noch zusätzlich ausgebaut, um einen autoritären Staat zu schaffen. Interessant ist, dass er genau diese Macht jetzt einschränkt.
Warum?
2024 endet die zweite Amtszeit von Putin als Präsident. Er dürfte laut der aktuellen Verfassung nicht noch einmal als Präsident antreten. Er hatte zunächst überlegt, ob er das ändert und noch einmal eine dritte Amtszeit als Präsident anstrebt. Das wird er jetzt aber nicht tun.
Was wird er stattdessen machen?
Diese Verfassungsänderung deutet darauf hin, dass er auf einen anderen Posten innerhalb des Systems wechselt. Die Verfassungsänderungen, die die Macht des Präsidenten einschränken, sollen dazu da sein, dass sein Nachfolger ab 2024 im Präsidentenamt keine Gefahr für Putin darstellen wird.
Wladimir Putin bei seiner jährlichen Ansprache am MittwochBild: imago
"Diese Veränderungen zielen alle darauf ab, die Macht des zukünftigen Staatspräsidenten zu beschränken, um Putins Nachfolge zu regeln"
Er sichert sich also für die Zeit nach seiner Präsidentschaft ab.
Ganz genau.
Könnten Sie sich vorstellen, dass er noch einmal Ministerpräsident wird, so wie es 2008 der Fall war, als er nicht noch einmal als Staatspräsident kandidieren konnte?
Nicht unbedingt. Das ist eine Option. Es ist aber noch nicht klar. Alles, was Putin bisher gemacht hat, ist dafür zu sorgen, dass sein Nachfolger im Staatspräsidentenamt nicht dieselbe Macht wie er hat. Welchen Posten er selbst antreten wird, ist noch nicht klar. Aktuell hat er alle Karten in der Hand und wird auch schauen, welche Posten gerade bei der Bevölkerung am beliebtesten sind und wo er am besten seine Macht durchsetzen kann. Das wird sich wohl in den nächsten ein bis zwei Jahren entscheiden.
Durch die Verfassungsänderung wird aber auch das Parlament gestärkt. Warum?
Ja, das ist korrekt. Bisher wurde die Regierung, inklusive Ministerpräsident, durch den Staatspräsidenten ernannt. Das soll in Zukunft das Parlament entscheiden. Es geht darum, die Macht des Staatspräsidenten, also von Putins Nachfolger in diesem Amt, einzuschränken. Bisher konnte der Präsident alleine die Chefs der Geheimdienste wie die des FSB ernennen. Das ist nach der Verfassungsänderung nur noch in Absprache mit dem Föderationsrat möglich. Der Rat kann dann auch eigenständig Richter am Verfassungsgericht abberufen. Diese Veränderungen zielen alle darauf ab, die Macht des zukünftigen Staatspräsidenten zu beschränken, um Putins Nachfolge zu regeln.
Wie würden Sie das Verhältnis von Putin und dem zurückgetretenen Ministerpräsidenten Medwedew beschreiben?
Auf alle Fälle loyal, aber nicht ganz konfliktfrei. Jemand, der sich so lange unter Putin als Ministerpräsident und zeitweise Staatspräsident gehalten hat, muss loyal gegenüber Putin sein, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Weil Medwedew aber als Präsident versucht hatte einen liberaleren Kurs einzuschlagen, geriet er in die Kritik. Putin hatte seinen Kurs damals unterbunden. Das ist bestimmt nicht ganz spannungsfrei gewesen.
"Es ist absolut niemand in Sicht, der Putin in seiner Machtfülle beerben könnte"
Gibt es überhaupt jemanden in Russland, der Putin politisch gefährlich werden könnte?
Nein. Es ist auch absolut niemand in Sicht, der Putin in seiner Machtfülle beerben könnte. Der Kreml, der auch die Medien kontrolliert, weiß, wie man jeden möglichen Konkurrenten beschädigen kann. Es wird für Putin darum gehen, jemanden ins Präsidentenamt zu heben, der ihm gegenüber loyal ist, freie Hand lässt und vor allem auch Straffreiheit garantiert.
Straffreiheit?
Ja. Das hat Putin für Boris Jelzin 1999/2000 getan. Das war eine seiner ersten Amtshandlungen als Staatspräsident. Er hat eine Amnestie für Jelzin und seine engsten Mitarbeiter unterschrieben. Das wird Putin 2024 auch von seinem Nachfolger verlangen. Er hat sehr viel Geld in den letzten Jahren angehäuft und wird dafür sorgen wollen, dass er das behalten kann. Außerdem will er weiterhin politisch Einfluss nehmen können und sichergehen, dass er keine Strafverfolgung befürchten muss.
Weshalb könnte er die fürchten müssen?
Zum einen könnte man ihn für die fortschreitende Ausdehnung der Macht der Regierung strafrechtlich verfolgen, auch Verfahren wegen Korruption wären denkbar. Letztlich könnte ein potenzieller neuer Machthaber aber auch schlicht Anschuldigungen erfinden. Politische Instrumentalisierung der Justiz steht in Russland leider an der Tagesordnung.
"Putin muss einen Nachfolger finden, der sein System weiter betreibt, ihm sein Vermögen lässt und ihm Straffreiheit garantiert"
Wie sieht denn die russische Bevölkerung das Ganze? Wie ist die Stimmung gegenüber Putin?
Immer noch gut, aber nicht mehr so gut wie vor drei bis vier Jahren. Medwedew war sehr unbeliebt. Dass er geht, ist kein Verlust in den Augen der meisten Russen. Putin war nach der Annexion der Krim 2014 sehr lange beliebt. Das hat sich aber in den letzten Jahren geändert, weil es innenpolitisch nicht ganz rund läuft. Es gab 2018 Proteste wegen einer Pensionsreform und der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Stimmung im Land ist nicht mehr so gut, wie sie einmal war und Putin muss Antworten auf sozialpolitische Fragen finden. Trotzdem bleibt er ein sehr beliebter Politiker – mit Beliebtheitswerten, von denen deutsche Politiker nur träumen.
Osteuropa-Expertin Sarah Pagung.Bild: Privat
Woran könnte Putin noch scheitern?
Die Machtübergabe 2024 ist ein empfindlicher Punkt. In einem autoritären System kann es bei sowas häufig zu Konflikten kommen. Putin muss es schaffen, sein Machtsystem weiter zu erhalten. Er muss einen Nachfolger finden, der sein System weiterbetreibt, ihm sein Vermögen lässt und ihm die Straffreiheit garantiert. Wenn ihm das nicht gelingt, könnte es kritisch werden.
Wer könnte Putin beerben?
Ich denke, er wird sich lange zurückhalten, bis er sich auf einen Nachfolger festlegt. Das hat er bei Medwedew auch so gemacht. Damals waren zwei Kandidaten im Rennen und er hat sich erst wenige Monate vor der Wahl für Medwedew entschieden. Das hatte den Sinn, dass sich keiner der Kandidaten zu sicher sein und Putin damit gefährlich werden konnte. Für seinen Nachfolger wird er wahrscheinlich zunächst mehreren Kandidaten Hoffnungen machen und dann kurz vorher entscheiden, wer es werden soll. Aber das bleibt abzuwarten.
Über die Expertin
Sarah Pagung ist Expertin für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Ihr Schwerpunkt ist die russische Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Informationspolitik.
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