Moskau: Menschen stehen vor dem Eingang von IKEA Schlange, nachdem das Unternehmen angekündigt hat, seine Geschäfte in Russland zu schließen.Bild: dpa / Vlad Karkov
Interview
Geschlossene Geschäfte, Schlangen an den Geldautomaten: Russland wird vom Rest der Welt abgeschottet. Viele Menschen werden ihren Job verlieren, sagt der Volkswirtschaftler und Osteuropa-Experte Theocharis Grigoriadis.
15.03.2022, 11:4408.06.2022, 18:26
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch in Russland Konsequenzen: Millionen Menschen dort sind von sozialen Netzwerken abgeschnitten, viele westliche Unternehmen wie die Fastfood-Kette McDonalds oder das schwedische Möbelhaus Ikea machen in Russland dicht. Noch sollen die Schließungen nur vorübergehend sein, die Mitarbeiter bekommen weiter Geld.
Doch das ist nicht alles: Die russische Währung (Rubel) verliert an Wert, Geldkarten vieler Banken funktionieren nicht mehr, Preise steigen massiv und schnell. Russlands Finanzmarkt ist von der Welt abgeschnitten, die USA kauft weder Öl noch Gas von Russland, in Europa wird darüber noch gestritten.
Was aber bedeuten die Sanktionen für die russischen Bürger konkret? Ein Gespräch mit dem Osteuropa-Experten und Volkswirtschaftler Theocharis Grigoriadis von der FU Berlin:
Theocharis Grigoriadis.Bild: FU Berlin / Bloom Fotostudio
Der Osteuropa-Experte
Theocharis Grigoriadis leitet die Ableitung Volkswirtschaft am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Der Fokus der Professur liegt auf den Wirtschaftssystemen Russlands, Osteuropas und Zentralasiens.
"Wir erwarten, dass eine Reihe russischer Unternehmen pleitegehen und deren Besitzer arbeitslos werden."
watson: Herr Grigoriadis, die Europäische Union, die USA und viele weitere Staaten der Welt haben heftige Sanktionen gegen Russland angeschoben. Wie sehr wird das russische Volk darunter leiden?
Theocharis Grigoriadis: Alle diese großen makroökonomischen Entwicklungen, die jetzt zu beobachten sind, haben großen Einfluss.
Was meinen Sie mit makroökonomischen Entwicklungen?
Zum Beispiel die Abwertung des Rubels, den Ausschluss Russlands aus den globalen Finanzmärkten, den Ausschluss aus dem Banken-Kommunikationsnetz SWIFT – dazu auch von Mastercard und VISA – und gleichzeitig der Mangel an Liquidität im russischen Finanzsystem. All das hat riesige negative Effekte auf das russische Volk, in erster Linie auf den russischen Mittelstand und die russischen Unternehmen.
Warum genau dort?
Sie können sich sicher vorstellen, dass ein Unternehmer mit einem Ausschluss von SWIFT, mit einer abgewerteten Währung, sehr, sehr schlecht Geschäfte machen kann, sowohl im Ausland als auch im Inland. Wir erwarten, dass eine Reihe russischer Unternehmen pleitegehen und deren Besitzer arbeitslos werden. Das wiederum bedeutet, das Bruttoinlandsprodukt dort wird massiv sinken. Die russische Wirtschaft wird also noch kleiner werden.
"Seit der Annexion der Krim hat das russische BIP ein Drittel seiner ursprünglichen Größe verloren. Und das geht jetzt weiter."
Die Wirtschaft in Russland war ja sowieso schon nicht gesund, oder?
Ja, das muss man dabei immer im Hinterkopf behalten. Wir haben das alles schon erlebt: Seit der Annexion der Krim 2014 hat das russische BIP schon ein Drittel seiner ursprünglichen Größe verloren. Und das geht jetzt weiter.
Was bedeutet das konkret?
Das heißt, russische Unternehmen – nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in den ländlichen Regionen – werden erhebliche wirtschaftliche Probleme haben. Und das hat nicht nur Folgen für das Unternehmertum, sondern für den normalen Verbraucher. Der Wert ihrer Währung wird kleiner und kleiner werden. Sie werden keinen Zugang mehr zu europäischen Produkten haben, den sie früher hatten und viele werden auch ihren Job verlieren. Natürlich, wenn ein Unternehmen schließt, dann werden die Leute, die dort arbeiten, arbeitslos.
13. März: Abgehängte Schaufensterpuppen einer schwedischen Modekette in einem Moskauer Einkaufszentrum.Bild: www.imago-images.de / imago images
Auch westliche Unternehmen ziehen sich aus Russland zurück. Beispiele sind hier etwa IKEA oder McDonalds. Wie wird sich das auswirken?
Die Yale School of Management hat bereits eine Liste von 200 Unternehmen veröffentlicht, die das Territorium der Russischen Föderation verlassen haben, und diese Zahl steigt täglich. Russland muss mit einem radikalen Rückgang seines BIP rechnen, was zusätzlichen Druck auf sein angeschlagenes Finanzsystem ausüben wird.
Könnte dadurch die Stimmung in Russland kippen?
Ja, klar. Deswegen ist ja die Zensur der Medien eine sehr effektive Maßnahme des Kremls. Aber so effektiv, wie man es sich womöglich erhofft hat, ist sie nicht. Es gibt einen klaren Generationenunterschied in Bezug auf die Reaktionen.
Wie zeigt sich das?
Die jüngere Generation ist deutlich regierungskritischer als die ältere. Und ich erwarte, dass dieser Generationenkonflikt noch größer wird. Die jungen Menschen wollen den Krieg nicht, sie wollen die Finanzkrise nicht. Die älteren Leute, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden, sind eher bereit, die Positionen des Regimes anzunehmen und die Konsequenzen dafür zu tragen.
"Wir können davon ausgehen, dass es neben der großen Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine auch viele russische und belarussische Geflüchtete geben wird."
Nun häufen sich aber bereits Berichte, dass die russische Bevölkerung an den Geldautomaten Schlange stehen. Sie wollen schnellstmöglich Bargeld abheben, bevor es eventuell nicht mehr möglich ist. Hat nicht gerade das einen negativen Einfluss auf den Wert der Währung?
Hat es. Dieses Phänomen nennt sich Bank-Run. Und das ist ein typisches Charakteristikum einer Finanzkrise. Wir beobachten außerdem, dass häufig große Geldmengen abgehoben werden – wir können davon ausgehen, dass es in den nächsten Monaten neben der großen Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine auch viele russische und belarussische Geflüchtete geben wird. Wirtschaftsflüchtlinge – als direkte Konsequenz dieser Krise.
Werden russische Bankautomaten irgendwann kein Geld mehr ausspucken?
Das wird sicherlich der Fall sein, weil die Banken das verfügbare Geld rationieren müssen, damit die Reserven eben nicht völlig ausgeschöpft werden. Die russische Zentralbank versucht natürlich alles, um eine Erschöpfung zu verhindern.
Arbeitslosigkeit, knapp werdendes Bargeld, weniger Produkte aus dem Ausland: Müssen sich russische Bürgerinnen und Bürger auf Armut einstellen?
Armut wird nach Russland zurückkehren, und damit verbunden vor allem starke regionale Ungleichheiten. Schon zu Beginn der globalen Finanzkrise 2008/2009 war das der Fall und auch nach der Annexion der Krim gab es diese regionalen Unterschiede beim Thema Wohlstand beziehungsweise Armut. Aber jetzt wird das alles noch schlimmer sein. Und deshalb kann man auch mit einer Zunahme der Proteste in den Provinzen Russlands rechnen. Solche Reaktionen auf diesen Krieg werden dann sicherlich in den ärmeren Regionen sehr viel stärker werden.
Hat Wladimir Putin das Verständnis für sein eigenes Land verloren? Bild: imago images / Alexei Druzhinin/Kremlin Pool
Also werden die Sanktionen und die Härte, mit der sie auf das russische Volk niederprasseln, den Widerstand gegen den Kreml erhöhen?
Die Jugend in den Provinzen wird sich immer stärker gegen das Regime auflehnen. Die älteren Leute wahrscheinlich nicht. Junge Menschen sehen, dass ihre Zukunft in Russland praktisch vernichtet wird: Sie sehen, dass ihre Familienmitglieder arbeitslos werden, die Jobmöglichkeiten ausbleiben und in den großen Städten der direkte Zugang zum Westen verwehrt wird. Hinzu kommt, dass viele Städte in Sibirien oder im Osten Russlands von bestimmten Unternehmen oder Investitionen leben. Wenn diese Unternehmen oder Investitionsprojekte weg sind – wie sollen sie da noch überleben?
Hat die russische Regierung das denn nicht im Blick?
Das alles ist ein Zeichen dafür, dass die Regierung das Verständnis für das eigene Land verloren hat. Wenn man einen solchen Krieg erklärt, sollte man vorab die wirtschaftlichen Konsequenzen kalkuliert haben. Putin und sein Machtzirkel rechnen aber offenbar damit, dass die Proteste nicht lange anhalten werden. Da bin ich mir aber nicht so sicher, muss ich sagen. Die russische Wirtschaft ist immerhin schon seit mehreren Jahren in einer Krise.
"Man muss zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Effektivität der Sanktionen unterscheiden. Die politische ist sehr gering."
Die hat immer vom Gas profitiert.
Richtig. Und was die Sanktionen angeht: Man muss immer zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Effektivität der Sanktionen unterscheiden. Die politische ist sehr gering. Das hat man auch am Beispiel Iran gesehen. Globale Sanktionen gegen Iran haben nicht zu einem politischen Umschwung geführt. Und auch das Putin-Regime wird damit nicht verändert. Schlagkraft hat die Wirtschaft. Und das wird sicherlich das Bild innerhalb des Landes ändern. So ist es im Iran auch passiert. Die US-Sanktionen gegen den Iran stehen im Zusammenhang mit dessen Nuklearprogramm und der Unterstützung terroristischer Aktivitäten im Libanon und in Israel. Während sie keine Auswirkungen auf das iranische Regime selbst hatten, haben sie der iranischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt.