Ein Video geht auf Twitter viral: Eine junge Frau feiert, tanzt und trinkt ausgelassen mit ihren Freund:innen. Sie rappt einen Song und posiert dabei für die Handykamera. Eine typische Partyszene, aufgenommen in einer Wohnung mit wenigen Anwesenden. Nichts Außergewöhnliches – würde es sich bei der Frau nicht um die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin handeln. Aber warum sollte sie das nicht dürfen?
Seit dem Party-Video bricht eine Welle von Kritik über die 36-Jährige ein. Die Debatte zeigt erneut, welche utopischen Erwartungen die Öffentlichkeit an Politiker:innen stellt. Sie sollen wie ein Roboter funktionieren, 24 Stunden, 100 Prozent. Diese unerreichbare Messlatte muss neu angepasst werden, denn Politik:innen sind auch nur Menschen – und ja, sie feiern auch mal gerne.
Eine Frau darf ein hohes Amt innehaben und sich im Feierabend den Stress von der Seele tanzen. Das geleakte Video zeigt Marin nicht trinkend und tanzend auf dem internationalen Staatsparkett, sondern privat in einer Wohnung unter Freund:innen. Und doch ist der Aufschrei groß:
Sie solle sich lieber um die Probleme in ihrem Land kümmern.
Sie solle sich ihrem Amt angemessen benehmen.
Sie solle zurücktreten.
Sie soll so viel tanzen dürfen, wie sie will, solange sie ihren Verpflichtungen als Regierungschefin nachgeht.
Finnland besitzt die längste Grenze mit Russland in der Europäischen Union. Welcher Regierungschef muss bei dieser Nähe zu einem Aggressor wie Putin, der einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestartet hat, nicht mal Dampf ablassen?
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine bemüht sich Sanna Marin um die Sicherheit ihres Landes und einen raschen Nato-Beitritt. Trotz hoher Inflation und ökonomischer Auswirkungen durch den Krieg erwarten Expert:innen weiterhin ein solides Wirtschaftswachstum in Finnland.
Übrigens: Finnland erreichte im Jahr 2022 den Spitzenplatz im Weltglücksbericht (World Happiness Report) der Vereinten Nationen – zum fünften Mal in Folge.
Es sieht also so aus, als liefe im Land des Nordens etwas richtig. Marin macht einen guten Job.
Aber Spaßverderber gibt es bekanntlich überall, wie etwa den finnischen Sport-Moderator Aleksi Valavuori. Auf Twitter schreibt er:
Die 36-Jährige bleibt die coolste Regierungschefin Europas –und das, Herr Valavuori, finden nicht nur Teenager! Auf das Video gibt es auch reichliche positive Reaktionen. Marin kann also getrost ihre Lederjacke anlassen, bis der "Shitstorm" vorbeigezogen ist.
Junge Frauen haben es ohnehin schwer, sich in der Männerdomäne Politik zu beweisen. Jedes Wort, jeder Schritt wird unter die Lupe genommen und beurteilt – ganz zu schweigen von den Äußerlichkeiten wie Kleidung, Figur und dass es sich Frauen erlauben, mit dem Alter Gesichtsfalten zu bekommen. Der Fall Marin und die Frage "gehört sich so ein Benehmen für eine Ministerpräsidentin" zeigt das tiefgreifende Problem: Die Qualifikation von Frauen wird in der Politik oft angezweifelt.
Anscheinend ist es für manche Leute schwer zu ertragen, dass eine junge, erfolgreiche Politikerin wie Marin ausgelassen tanzt und am nächsten Tag die Staatsgeschäfte ihres Landes meistert. Stattdessen folgen Anforderungen "sie soll das, sie soll jenes" und die endlosen Vorwürfe "sie ist inkompetent für dieses Amt". Und weil die Finnin so einen Spaß an diesem Abend hatte, spekulieren selbsternannte Twitter-Detektiv:innen, dass Marin Drogen konsumiert haben muss.
"Ich habe keine Drogen genommen und habe daher auch kein Problem damit, einen Drogentest zu machen", erklärt Marin am Donnerstag vor einer Sitzung ihrer Partei. Es ärgere sie, dass dieses Video an die Öffentlichkeit gelangt ist. "Ich habe einen Abend mit Freunden verbracht", sagt die Ministerpräsidentin. Sie gibt zu, dass auf der von ihr besuchten Party Alkohol getrunken worden sei – ein Skandal!
Oder ist es viel mehr der Neid auf die jüngste Regierungschefin Finnlands, die ihr Land durch Krisenzeiten führt und sich dennoch nicht den Spaß am Leben verderben lässt? Sind wir nicht alle ausgebrannt nach zwei Jahren Pandemie, Inflation, Krisen sowie Kriegen in Europa und in der Welt? Wenn Marin ihren Kopf freibekommt, indem sie tanzt, rappt und mit Freund:innen im Privatem feiert, geht das niemanden etwas an. Vielmehr wirft das geleakte Video die Fragen auf: Wie ist es an die Öffentlichkeit gekommen? Warum jetzt und wem nützt das?
Ansonsten ist nichts Verwerfliches an diesem Partyvideo.
Auch Politik:innen haben ein Recht darauf zu feiern. Wer sich mehr tanzende Staats- und Regierungschefs wünscht, für den hat "Jon Of Us" auf Twitter ein Best-of zusammengestellt.