Am Montagmorgen haben die russischen Streitkräfte nach ukrainischen Angaben zahlreiche ukrainische Städte bombardiert, darunter die Hauptstadt Kiew und die westukrainische Stadt Lwiw. In diesen beiden Städten schlugen zum ersten Mal seit Monaten wieder Raketen ein.
Die Angriffe richteten sich nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor allem gegen die Energie-Infrastruktur der Ukraine – aber auch gegen Zivilist:innen. Der Politikwissenschaftler Andreas Umland spricht gegenüber watson von einer Zermürbung der Bevölkerung. Aber was ist überhaupt passiert?
Zahlreiche Videos zeigen das Ausmaß der Raketenangriffe. Der Reporter Matthew Luxmoore, der für die amerikanische Tageszeitung "The Wall Street Journal" aus der Ukraine berichtet, teilte auf Twitter Aufnahmen der Verwüstung.
Über dem bewaldeten Taras-Schewtschenko-Park im Zentrum von Kiew steigt noch immer weißer Rauch auf. Im Boden klafft ein tiefer Krater, Äste sind abgebrochen, ein Spielplatz verwüstet. Die Fensterscheiben der Häuser am Rand des Kiewer Parks sind geborsten, auf dem Boden liegen Glasscherben. Die Wucht der Explosion hat die Tür eines Restaurants herausgerissen, die Angestellten kehren bereits die Trümmer zusammen.
Auch an der Straßenkreuzung klafft ein Loch im Asphalt. Die daneben parkenden Autos sind nur noch verkohlte, verbogene Wracks. Unweit davon liegt eine Leiche, die mit einer Plane abgedeckt wurde.
Laut des ukrainischen Zivilschutzes wurden mindestens elf Menschen landesweit getötet und mindestens 64 verletzt. Die meisten Opfer gab es nach Angaben von Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in der Hauptstadt. Viele Menschen waren gerade auf dem Weg zur Arbeit.
Der russische Präsident Wladimir Putin ordnete die Raketenangriffe an, nachdem am Samstag eine Explosion die 19 Kilometer lange Krim-Brücke erschüttert hatte. Diese Brücke verbindet Russland und die 2014 von Moskau annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Russland macht den ukrainischen Geheimdienst SBU für die Explosion verantwortlich.
"Der Angriff auf die Krim-Brücke ist eher der Anlass", sagt Andreas Umland im Gespräch mit watson. Er arbeitet als Analyst am Stockholm Zentrum für Osteuropastudien. Diese Eskalation unterscheide sich dem Politikwissenschaftler zufolge kaum von früheren militärischen Aktionen Russlands. Dabei bezweifelt er, dass hinter der Explosion auf der Brücke die Ukrainer stecken.
Dazu sagt er:
Dennoch besitzt die brennende Brücke eine starke Symbolkraft. Diese Bilder führen laut Umland zu einem Imageverlust für Putin und haben auf der Krim unter den Besatzern Unsicherheit erzeugt.
Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba weist die Anschuldigung Russlands scharf zurück. "Nein, Putin wurde nicht von der Krim-Brücke zum Raketenterror 'provoziert'", teilt er per Twitter mit. "Russland hatte die Ukraine auch vor der Brücke ständig mit Raketen getroffen. Putin ist verzweifelt wegen der Niederlagen auf dem Schlachtfeld und versucht mit Raketenterror, das Kriegstempo zu seinen Gunsten zu ändern."
Ein weiterer Grund für die Raketenangriffe sieht der Experte Umland darin, dass die Ukraine für einen "Diktatfrieden" vorbereitet werden soll. "Die ukrainische Bevölkerung und Führung sollen zermürbt werden", sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew. Sodass die Ukraine einen Friedensvertrag eingeht, dessen Bedingungen von Russland einseitig festgelegt werden.
Womöglich werde Putin demnächst eine "Art Minsk-III-Vereinbarung" vorschlagen, meint Umland. Durch die 2015 von Deutschland und Frankreich vermittelte "Minsk-II-Vereinbarung" sollte damals Frieden in die Ostukraine einkehren.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg habe mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba gesprochen, schreibt er auf Twitter. Im Gespräch habe er "Russlands schreckliche und wahllose Angriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine verurteilt". Die Nato werde die Ukraine weiterhin dabei unterstützen, "gegen die Aggression des Kremls zu kämpfen, solange, wie es nötig ist", schreibt Stoltenberg.
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), meldet sich ebenfalls auf Twitter zu Wort. Sie besuchte die Ukrainer erst vor wenigen Tagen, daher bewege sie die Angriffe auf Kiew besonders. Die Politikerin bezeichnet die Angriffe als "Terror" und fordert für die Ukraine Panzer sowie dringend mehr Flugabwehr.
Laut Umland habe die Ukraine schon Ende Februar 2022 um die Mittel zur Einrichtung einer effektiven Flugverbotszone gebeten. "Das Land braucht moderne Raketen- und Drohnenabwehrwaffen, um ähnliche Anschläge wie heute zu verhindern", sagt der Experte. Auch benötige die Ukraine Hilfe bei der Reparatur der beschädigten Infrastruktur.
(Mit Material der dpa/afp)