Wahltag in Michigan: Bei der US-Wahl zeichnet sich ein knappes Rennen ab.Bild: imago images / Steven King/Icon Sportswire
International
Die US-Wahl scheint knapp auszufallen. Präsident Trump setzt daher auf die Hilfe der Gerichte. Vor allem hofft er auf die konservativen Richter am Supreme Court. Die Demokraten werben schon um Spenden für Prozesse. Den USA droht eine unruhige Hängepartie.
05.11.2020, 11:1605.11.2020, 13:14
Nach einem chaotischen Monat des Wartens und mit
Betrugsvorwürfen gewinnt einer der beiden Kandidaten dank eines
Gerichtsurteils die US-Präsidentenwahl. Das ist der Alptraum, der
gerade manche Amerikaner umtreibt: Nach einer knappen Wahl mit
Rekordbeteiligung könnten letztlich Richter entscheiden. Es gibt zwei
Gründe, wieso dieser böse Traum nicht als Fantasie abgelegt werden
kann: Erstens ist es bei der Wahl im Jahr 2000 genau so gewesen; und
zweitens scharren die Anwälte angesichts des absehbar knappen
Ergebnisses bereits mit den Hufen.
Wilde Betrugsvorwürfe, Drohungen mit Klagen und Forderungen nach
Neuauszählung: All das passierte schon wenige Stunden nach Schließung
der letzten Wahllokale, noch bevor überall die Stimmen ausgezählt
waren. US-Präsident Donald Trump hat sich bereits selbst zum Sieger
erklärt, auch sein demokratischer Herausforderer Joe Biden zeigte
sich siegessicher, mahnte aber, die Auszählung abzuwarten. Angesichts
des knappen Ergebnisses scheint in den kommenden Wochen ein zähes
Hickhack fast unvermeidbar.
Die Macht der Gerichte
Gerichte können nicht über den Ausgang der Wahl an sich befinden,
auch nicht der Supreme Court in Washington. Richter sind nicht für
eine Überprüfung der Ergebnisse zuständig. Örtliche Gerichte oder
übergeordnete Instanzen können aber über die Rechtmäßigkeit von
Fristen, Auszählungsregeln oder die Gültigkeit von Ergebnissen
entscheiden.
Geklagt wird in den USA immer schnell und viel. In den allermeisten
Wahljahren, wenn ein Kandidat einen guten Vorsprung hat, könnten ein
oder zwei Klagen nicht den Wahlausgang beeinflussen. Angesichts der
absehbar knappen Ergebnisse in Staaten wie Wisconsin, Michigan und
Pennsylvania könnte das in diesem Jahr anders sein. Wegen des
Mehrheitswahlrechts kann sich ein Kandidat einen Bundesstaat
theoretisch schon mit einer Stimme Vorsprung sichern.
Trump wittert Betrug
Trump sprach am Mittwoch mit Blick auf die noch laufende Auszählung
bereits von massivem Betrug. "Sie finden überall Stimmen für Biden – in Pennsylvania, in Wisconsin und in Michigan. So schlecht für unser
Land", schrieb er auf Twitter. Experten und Studien zufolge ist
Wahlbetrug in den USA aber extrem selten. Twitter versah mehrere
Nachrichten Trumps umgehend mit einem Warnhinweis und schränkte damit
auch die Möglichkeit der Weiterverbreitung der Tweets ein.
Trumps Wahlkampfteam kündigte an, in Wisconsin eine Neuauszählung der
Stimmen zu beantragen. In Michigan reichten sie eine Klage ein, um
die Auszählung zu stoppen. Genauso in Pennsylvania. In den drei
Staaten werden zusammen die Stimmen von 46 Wahlleuten vergeben. Ein
Kandidat braucht zum Sieg 270 Stimmen. Biden schien am Mittwochabend
(Ortszeit) vorne zu liegen, aber es dürfte knapp werden.
Werben um Spenden für Prozesskosten
Der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell,
erklärte, dass er Trumps Ankündigung, den Kampf um die Wahl vor
Gericht fortzusetzen, für unproblematisch halte. Bei einem knappen
Wahlergebnis "ist das schon früher passiert und könnte auch dieses
Mal passieren", sagte der Trump-Vertraute. "Vor Gericht zu gehen, ist
der Weg, wie wir Unsicherheiten auflösen." Die Demokraten warben
sogleich um Spenden für Prozesskosten. Sie seien nach Trumps
Drohungen "bereit, zurückzuschlagen", schrieb Bidens Vize-Kandidatin
Kamala Harris auf Twitter. "Unsere Arbeit könnte sich über Wochen
hinziehen und wir brauchen Ihre Hilfe", hieß es in dem Spendenaufruf.
Trump mit Heimvorteil beim Obersten Gericht
Demokraten und Republikaner hatten schon vor der Wahl zahlreiche
Anwälte engagiert. Manche Klagen dürften durch alle Instanzen
gefochten werden und könnten letztlich beim Obersten Gerichtshof in
Washington, dem Supreme Court, landen. Dort hat Trump einen
Heimvorteil: Sechs der neun auf Lebenszeit ernannten Richter gelten
als konservativ, drei davon hat der Republikaner selbst nominiert.
Einige Klagen rund um die Wahl waren schon vor der Abstimmung bei den
Richtern gelandet, dabei ging es zumeist um recht technische Fragen.
Ein Streitthema war zum Beispiel die Frage, ob eine Frist zur Annahme
von Stimmzetteln von einem Gericht geändert werden kann oder nur vom
Parlament des betroffenen Bundesstaats. Bei den Entscheidungen der
Richter ließ sich in der Summe keine klare parteiliche Tendenz
erkennen. Die erst Ende Oktober ernannte konservative Richterin Amy
Coney Barrett enthielt sich bei mehreren Entscheidungen. Bei einer
Entscheidung zur Annahme von Briefwahlunterlagen in Pennsylvania nach
dem Wahltag behielten sich die Richter aber ausdrücklich vor, sich
der Frage nach der Abstimmung möglicherweise nochmal zu widmen.
Erinnerung an die Wahl 2000
Das ist für manche Beobachter ein Alptraum: Was würde passieren,
falls Biden Pennsylvania nur knapp mit Hilfe der verspätet
eingetroffenen Briefwahlstimmen gewinnen würde? Falls die Richter die
Stimmen für ungültig erklärten, verlöre Biden die 20 Wahlleute des
Bundesstaats und damit womöglich die Wahl.
Es ist ein hypothetisches Szenario, aber es ist nicht aus der Luft
gegriffen: So ähnlich war es 2000 passiert. Ob George W. Bush oder Al
Gore der nächste Präsident würde, hing damals nur am Ergebnis im
bevölkerungsreichen Bundesstaat Florida. Der Rechtsstreit um das
Ergebnis und Neuauszählungen zog sich einen Monat hin, bis vor das
Oberste Gericht. Danach räumte Gore seine Niederlage ein. Der
Republikaner Bush gewann mit 537 Stimmen Vorsprung, sicherte sich die
Stimmen der Wahlleute Floridas und wurde US-Präsident.
Klagen könnten Spaltung des Landes vertiefen
Trump hat schon vor der Wahl behauptet, er könne nur verlieren, falls
es "massiven Wahlbetrug" gebe. Es schien daher so gut wie
ausgeschlossen, dass er kampflos seine Niederlage einräumen würde. Er
wird jede Klage ausfechten lassen. Den USA drohen daher – inmitten
der weiter virulenten Coronavirus-Pandemie – sehr unruhige Wochen.
Die Spaltung des Landes in zwei verfeindete politische Lager dürfte
sich weiter vertiefen, es könnte auch zu Protesten kommen.
Die Hängepartie könnte sich etwa einen Monat hinziehen: Die
Bundesstaaten müssen ihre Endergebnisse bis zum 8. Dezember
beglaubigen und nach Washington melden. Diese Frist, als "safe
harbor" bezeichnet (sicherer Hafen), war zum Beispiel im Jahr 2000
bei Gores Entscheidung, seine Niederlage einzuräumen, entscheidend.
Sollte es über die Frist hinaus weiter Streit geben, könnte es recht
kompliziert werden. Wirklich aufatmen dürften die Amerikaner daher
wohl erst nächstes Jahr: Am 20. Januar muss der nächste Präsident
vereidigt werden, so schreibt es das Gesetz vor.
(mse/dpa)