Gibt es ein Szenario, in dem Kidnapping moralisch vertretbar ist? Kindesentführung für den guten Zweck? Etwa im Krieg?
Masha zuckt nicht einmal mehr.
Als die Artillerie in der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk nach draußen schießt, sitzt das 12-jährige Mädchen vor einem Zentrum für humanitäre Hilfe. Sie kniet am Straßenrand, zwischen einem Park und dem gewaltigen, hellgelben Gebäude, das von weißen Sandsäcken umringt ist: Sie schützen vor direktem Beschuss und Schrapnellen.
Dass Bomben nach draußen geschossen werden, erkennt man am Geräusch. Ein Abwehrgeschoss knallt. Brachial, hallend, beeindruckend. Aber es ist nur ein Knall. Mehr nicht. Artillerie, die angreift, rauscht und pfeift, bevor sie knallt. Sie schlägt ein, kracht ohrenbetäubend und erschüttert alles in ihrer Umgebung.
Das Kind streichelt einen Hund. Es knallt. Sie genießt die Sonne. Ein lauterer Knall. Der Hund zieht den Schwanz ein. Masha redet mit Fremden vor dem Haus. Lacht. Wieder ein Knall. Gelernte Praxis. Einfach weiter machen.
Doch die Geräusche werden lauter.
Die Abwehrgeschosse kommen offenbar immer näher. Das macht jene nervös, die bei Masha stehen: teilweise aus dem Ausland eingereiste Helferinnen und Helfer, die gekommen sind, um Hilfsgüter zu liefern und Menschen zu evakuieren. Die gesamte Region ist von Lieferketten abgeschnitten.
Die Helfenden stehen vor dem Center und warten auf den Rest ihrer Kollegen – die in die wohl gefährlichste der momentan umkämpften Städte gefahren sind: Sjewjerodonezk, das nur wenige Kilometer entfernt von Lyssytschansk liegt.
Da ist Kevin, ein ehemaliger US-Militär-Sanitäter. Da ist Pasha, ein Ukrainer, der aus der Hauptstadt Kiew kommt, um hier im Osten zu helfen. Margarita – kurz Margo – und Ivanowich gehören auch zum Team. Sie schauen sich gerade in der Gegend um, denn Margo dreht einen Dokumentarfilm. Sie ist Filmstudentin in Berlin, kommt ursprünglich aus der Ukraine, aus der Region Luhansk.
Und dann ist da das Kind. Masha. Ein dünnes Mädchen mit langen, blonden Haaren. Zerbrechlicher Körper, widerstandsfähiger Geist. Mit ihrem Blick strahlt sie Wärme aus, aber auch Gleichgültigkeit, vielleicht Müdigkeit. Als würde sich der Krieg in ihren grünen Augen spiegeln – und allem die Farbe nehmen, alles grau tönen.
Das Kind mit dem grauen Pullover, den verwaschenen Jeans und der Sonnenbrille erzählt von seiner Familie. Sie lebe mit ihren zwei Geschwistern und ihren Eltern hier in der Stadt, erzählt Masha. Masha ist der Kosename für Maria. "Wir gehen hier nicht weg", sagt sie auf Russisch. Dann lacht sie, als Kevin versucht, den zitternden Hund mit Leckerlis zu beruhigen.
20 Minuten vorher hatte einer der Mitarbeitenden des Hilfszentrums verboten, Fotos vom Gebäude zu machen. Weder innen noch außen. "In Sjewjerodonezk gab es vier solche Zentren", schrie der Mann mit Pferdeschwanz Margo an, die gerade mit ihrer Kamera durch die Eingangshalle gelaufen war. "Jetzt gibt es nur noch eines, die Russen haben alle anderen zerstört."
Lyssytschansk ist neben Sjewjerodonezk die einzige Stadt in der Region Luhansk, die noch von der Ukraine kontrolliert wird. Wobei die Nachbarstadt Sjewjerodonezk kurz vor dem Fall steht. Während die Helferinnen und Helfer in Lyssytschansk warten, greifen gerade russische Truppen die einzige noch funktionierende Brücke an, die dort hinein und wieder heraus führt.
Seit Beginn des Krieges Ende Februar ist der Aufenthalt in diesem Gebiet lebensgefährlich. Jede Nacht wird Lyssytschansk beschossen. Häuser, Straßen, Laternen, Autos: In jeder Straße zeichnet sich ein Bild der Hölle. Auch tagsüber kommt es häufig zu Bombardements. Selbst der Weg dorthin kann tödlich enden. Er führt über eine lange geradlinige Straße, die von russischen Truppen leicht einzusehen ist. Vor wenigen Tagen wurde offenbar genau auf dieser Straße ein französischer Journalist durch eine russische Granate getötet.
Masha ist an diesem Tag allein im Stadtgebiet unterwegs.
Dieser Tag, der vermutlich ihr künftiges Leben bestimmen wird.
"Wir sollten uns vielleicht ein wenig von hier weg bewegen", sagt Kevin, während er sich an einen Ambulanzwagen der Helfenden lehnt. Er tippt sich ans Ohr, blickt nach rechts und links. "Hört ihr nicht, dass die Geschosse näherkommen? Das ist kein gutes Zeichen." Wenn die Abwehr näher kommt, kommt wohl auch ein Angriff näher. "Wir sollten verschwinden."
Doch so weit kommt es nicht.
Es pfeift.
Es rauscht.
Es kracht, die Erde bebt.
Alle werfen sich auf den Boden. Alle, nur das Kind bleibt stehen. Sie blickt um sich. Schaut nach oben, rechts und links. Ihre grün-grauen Augen suchen Halt.
Masha weiß nicht, wie sie sich verhalten soll – woher auch? Wer hätte es ihr beibringen können?
Wieder kommt der tödliche Pfiff. Der Knall, das Beben.
Kevin packt das Mädchen an den dürren Armen, reißt es nach unten. Da liegt sie nun und weiß wieder nicht weiter. Kurz ist Ruhe. Da schallen schon die Rufe: "Go, go, go", schreit Pasha und zerrt das Mädchen wieder nach oben. Er zeigt auf das Hilfszentrum, da sollen sie rein.
Masha rennt und rennt – die 20 Sekunden fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Kurz bevor sie den Eingang erreicht hat, pfeift, rauscht, kracht es wieder. Und wieder. Und wieder.
Masha rennt weiter. Geht im Chaos der Hilfesuchenden im Eingangsbereich unter.
Schreie, Gedränge, Gebete, Umarmungen verhallen im tosenden Rauschen der Artillerie. Klirrende Fensterscheiben, Einschläge, herunterkrachende Steinbrocken sind zu hören. Masha ist nicht zu sehen. Rund 100 Menschen quetschen sich in einen Seitengang im Inneren des Zentrums. Sie drücken sich an Wände, die mit Kinderzeichnungen und Zertifikaten behängt sind.
Aus einem Lüftungsschacht wächst Efeu.
Eine alte Frau mit rot gefärbten Haaren steht an einer Säule, reißt die Augen auf, blickt hin und her – und hält sich die Hände vor den Mund. Andere schreien sich gegenseitig an.
Dann schlägt erneut ein Geschoss ein. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist alles ganz still. Ein Polizist rennt vorbei, hält sich ein Funkgerät ans Ohr. Wieder ein Einschlag. Die Menschen gehen in die Knie. Das Wimmern einer Frau ist zu hören. Ihre jugendliche Begleiterin tröstet sie.
30 Minuten dauert der Angriff. 30 Minuten lang schreien, zucken, weinen die Menschen. Dann ist Ruhe. Viermal wurde das humanitäre Hilfszentrum getroffen. Als es fünf Minuten am Stück still ist, schlüpft ein grauer Pullover durch die aneinander gepressten Arme zweier Stadtbewohnerinnen. Masha grinst, als sie sich an den Arm der Autorin klammert. Sie schaut mit ihren grünen Augen nach oben und drückt ihr Gesicht in eine Umarmung.
Margo und Ivanovich kommen angerannt. Was ist jetzt der Plan? Eigentlich sollten Menschen aus Sjewjerodonezk evakuiert werden. Doch hier ist der Bedarf gerade massiv gestiegen. Und: Länger vor Ort zu bleiben, könnte in einen neuen Angriff münden, könnte diesmal tödlich sein.
Margo spricht fließend Russisch. Die dünne Frau mit den hellbraunen Krausehaaren stellt sich vor die Menschen und spricht zu ihnen. "Ich habe gefragt, wer mit uns gehen will", erklärt sie und sieht glücklich aus. "Viele wollen jetzt fliehen."
Aber was ist mit dem Mädchen, das sich noch immer fest an den Arm der Journalistin krallt? Wo sind ihre Eltern?
Margo spricht schnell, aber bedacht. Sie nimmt die Hand des Mädchens. Das Mädchen antwortet und wirkt verzweifelt. "Ihre Mutter will nicht von hier weg, sie wollen nicht fliehen, aber Masha will unbedingt hier raus", übersetzt Margo.
Kevin stößt dazu und macht Druck. "Wir müssen los", sagt er. Doch Margo hält inne. Sie blickt zu Masha herunter. Dann zu Kevin. Zu den Menschen im Gang, die mit ihren Notfalltaschen auf ihre Flucht warten. Wieder schaut sie Masha an. "Margo, wenn du sie hier lässt und sie heute Nacht bei einem neuen Angriff stirbt, wirst du dir das nie verzeihen", sagt Kevin.
Ist das nun eine solche Situation? Sollte ein Kind aus einer Gefahrensituation gezogen werden – auch, wenn das rechtliche Konsequenzen haben kann? Wann ist Kidnapping moralisch vertretbar? Gerade hat das Mädchen einen Bombenhagel überlebt. Jede Minute könnte ein neuer kommen. Und Masha will da raus. Will raus aus dieser Stadt, dieser Hölle. Doch ihre Eltern nicht.
Margo fragt Masha etwas auf Russisch – und das Kind nickt. "Wir nehmen sie mit", sagt die Helferin. "Wenn wir in Sicherheit sind, rufen wir ihre Mutter an."
Drei Stunden später sitzen Margo und Masha vor einem Krankenhaus in der ostukrainischen Stadt Slowjansk. Margo telefoniert aufgebracht, Masha hört zu.
"Wir sollen sie wieder zurückbringen", sagt Margo. Ohne Ausdruck in ihrem Gesicht. "Die Mutter ist schon bei der Polizei, wir bekommen Probleme."
Auch im Team wird lange darüber diskutiert. Und heftig. Jeder versteht die Entscheidung, das Kind in Sicherheit zu bringen – und doch darf sie den Eltern nicht genommen werden, heißt es etwa. "Wir werden sie aber definitiv nicht zurückfahren", sagt jemand aus dem Team. Das müssen sie auch nicht.
Masha hat Überzeugungskraft. Am nächsten Tag wird die Mutter von dem Team der Helfenden mit ihren zwei weiteren Kindern und anderen Geflüchteten aus der Stadt geholt.
Der Vater bleibt.