Ministerpräsident Mario Draghi tritt von seinem Posten zurück und wirft Italien und Europa in eine ungewisse Zukunft.Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Roberto Monaldo
watson antwortet
Der Ministerpräsident Mario Draghi ist zurückgetreten und schon wieder müssen die Italiener deshalb verfrüht an die Urnen. Die Parteien am rechten Rand laufen sich bereits warm für den Wahlkampf. Ihre Chancen stehen gut, dass sie die stärkste Macht in der drittgrößten EU-Volkswirtschaft werden.
Aber wie geht es mit Italien bis dahin weiter? Wer wird Draghis Nachfolger und wie wird sich das Regierungschaos Italiens auf Europa auswirken? Diese und weitere Fragen klärt watson für euch.
Was bedeutet der Rücktritt Draghis für Italien?
Nach dem Rücktritt Draghis hat der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella die beiden Parlamentskammern aufgelöst. Damit ist nun klar: In Italien wird es vorgezogene Neuwahlen geben.
Die Italiener müssen bereits diesen Herbst eine neue Regierung wählen. Vorgesehen waren die Wahlen erst im Frühjahr 2023. Draghi bleibt im Amt, bis sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin ihn ablöst.
Parteichefin Giorgia Meloni von den rechtextremen Fratelli d'Italia. Wird sie die neue Ministerpräsidentin?Bild: LaPresse via ZUMA Press / Cecilia Fabiano
Inmitten eines hitzigen Wahlkampfsommers muss Draghi sein Land weiter regieren, ohne die Mehrheit der Koalition hinter sich zu haben. Dazu kommen die Dürre- und Energiekrise im Land und die Inflation. Kann der noch amtierende Ministerpräsident unter diesen Umständen regieren und weitere Reformen einleiten?
Es werde immer Mittel und Wege geben, dass Draghis Regierung auch weiterhin ihre Aufgaben erfüllen kann, sagt Italienexperte Roman Maruhn im Gespräch mit watson. Der in Palermo lebende Politikwissenschaftler betont bezüglich der Energiekrise, dass Italien seine Abhängigkeit zu Russland stark reduziert habe – mehr als Deutschland. Ob solche Erfolge auch in der Zukunft zu verzeichnen sind, bleibe nun offen.
Wer könnte Draghis Posten übernehmen?
Experten befürchten, die Neuwahlen könnte Italien weiter nach rechts rücken. "Mitte-Rechts ist bereit, die Wahl am 25. September zu gewinnen", erklärt Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Auch Maruhn sieht die Möglichkeit, dass die rechten Parteien gemeinsam eine Mehrheit erringen können. Darunter die rechtsnationale Lega, die konservative Forza Italia des ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berluscon und die rechtextremen Fratelli d'Italia mit Parteichefin Giorgia Meloni. Sie gilt bereits als Favoritin für Draghis Nachfolge.
So einfach ist das aus Sicht von Maruhn aber nicht: "Fratelli d'Italia kann die stärkste Partei werden, aber dann muss sie Koalitionspartner finden und einen Koalitionsvertrag aushandeln. Was nicht immer einfach ist." Ob Meloni dann auch als neue Ministerpräsidentin gewählt wird? Es könne noch vieles passieren.
Maruhn schreibt diesen Parteien am rechten Rand Italiens folgende Attribute zu: russlandfreundlich, nationalistisch und populistisch. Bedeutet eine rechtsorientierte, konservative Regierungsmehrheit demnach nichts Gutes für Europa – angesichts der wirtschaftlichen Krise und des Kriegs in der Ukraine?
Was bedeutet das Chaos in Italien für Europa?
"Die Lage ist problematisch", erklärt Maruhn. Schließlich sei Italien neben Frankreich und Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft unter den europäischen Mitgliedsstaaten.
"Die Menschen werden merken, was sie an Draghi verloren haben."
Erst im Juni besuchte Draghi gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron die Ukraine. Gemeinsam zeigten sie den europäischen Willen, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Land beizustehen. Ob das auch noch mit der neuen Regierung Italiens möglich ist?
Mario Draghi gemeinsam mit Olaf Scholz und Emmanuel Macron zu Besuch bei Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Bild: ap / Natacha Pisarenko
Politisch und wirtschaftlich gesehen, wird das Chaos in Italien nicht folgenlos bleiben. "Ich glaube, Italien braucht Draghi noch", sagte Außenminister Luigi Di Maio gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. "Traditionell gesehen machen sich die Italiener keine Sorgen, nach der Devise: So ist das einfach in Italien", sagt Maruhn. Aber in den vergangenen Monaten, mit Draghi im Amt, habe sich das geändert.
"Die Menschen werden merken, was sie an Draghi verloren haben", prognostiziert Maruhn. Draghi habe sich unter anderem als ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) Respekt verschafft und bewege sich auf internationalem Parkett. "Dadurch hat das Image Italiens und der Europäischen Union profitiert", meint Maruhn.
Nun bleibt die Ungewissheit, was eine nationalistische und russlandfreundliche Rechts-Koalition für die Europapolitik mit sich bringen würde, falls sie an die Macht kommt.
Es bestehe die Gefahr, dass Italiens politische Instabilität eine neue Krise in der Eurozone auslöse, kommentiert die Londoner "Times". Die Kreditkosten für italienische Staatsanleihen seien in die Höhe geschnellt und spiegeln die Befürchtung der Anleger wider, dass der Rücktritt von Draghi das Ende seines Reformprogramms bedeuten könnte.
Derzeit liegen die Staatsverschuldungen Italiens bei über 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Was bedeutet die Erhöhung des EZB-Leitzins für Italien?
"Zinsen zu erhöhen ist ein normales Mittel, um die Inflation einzugrenzen", erklärt Maruhn. Er fährt fort: "Dadurch erhöhen sich natürlich auch die Zinsen für die Staatsschulden, was nicht lustig ist."
Darauf folgen Steuererhöhungen, die Leute konsumieren weniger, nehmen weniger Dienstleistungen in Anspruch – das werde nicht spurlos an Italien vorbeigehen.
"Neben der Energieknappheit und gestörten Lieferketten ist die Regierungskrise in Italien eine weitere ernsthafte Belastung für den Euroraum", erläutert Rasmus Andresen gegenüber der dpa. Der finanzpolitische Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament warnt, die EU stehe am Beginn einer neuen Wirtschaftskrise.
Was bedeutet die Erhöhung des Leitzinses für das Sorgenkind Italien? Bild: dpa / Boris Roessler
Der Chefvolkswirt der ING Deutschland sieht das weniger dramatisch. Gegenüber dpa äußert sich Carsten Brzeski: "Wirtschaftlich droht keine neue Schuldenkrise. Alle Länder, auch Italien, haben die letzten Jahre genutzt, die Zinszahlungen zu reduzieren." Zudem sei Europa heute viel besser vorbereitet, unter anderem durch den Euro-Rettungsschirm ESM.
Die letzte große Euro-Schuldenkrise gab es 2012. Draghi unternahm als ehemaliger EZB-Chef alles, was möglich war, um den Euro zu retten. Jetzt bringt er durch seinen Rücktritt als Ministerpräsident einen Schneeball zum Rollen, der als Lawine über die Finanzmärkte Europas einbrechen könnte.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist einer der beliebtesten Politiker Deutschlands. Ganz anders als sein Chef, Bundeskanzler Olaf Scholz. Der will trotzdem Kanzlerkandidat seiner Partei werden.