Als die letzten vier Flugzeuge der Bundeswehr vorgestern Abend vom Rollfeld abhoben, um Ortskräfte und Soldaten aus Afghanistan zu evakuieren, saß Saif (Name geändert) nicht im Flieger, sondern mit seiner Frau und den Kindern in ihrem Zuhause in Kabul. Zurückgelassen. Einkesselt im eigenen Heimatland, das über Nacht zum Feindesland wurde.
Saif will nicht erkannt werden. Er hat große Angst vor Racheaktionen der Taliban, weil er als Ortskraft für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) arbeitet. Sein Vertrag läuft noch, ausgeflogen wurde er trotzdem nicht. Watson sprach mit ihm am Donnerstag über WhatsApp.
"Wir haben alle Hoffnung verloren, denn die Deadline der Taliban ist jetzt abgelaufen", sagt Saif. "Jetzt, wo die Taliban Afghanistan eingenommen haben, sind meine Kollegen und ich unendlich besorgt über unsere Zukunft und die unserer Kinder. Wir haben darauf gesetzt, dass Deutschland in diesen schlimmen Zeiten bei uns ist, aber leider ist das nicht der Fall."
Vor über 15 Jahren begann Saif, für die GIZ zu arbeiten. "Ich habe an diese Institution geglaubt und mich ihr mit vollem Einsatz verpflichtet", sagt er. Momentan nützt ihm das jedoch nichts. Das Auswärtige Amt schätzt, dass mehr als 10.000 Menschen wie er in Afghanistan zurückblieben, die eine Aufnahmegarantie von Deutschland haben – darunter rund 300 deutsche Staatsbürger.
Auch Saif wurde nicht evakuiert. Und er weiß nicht, ob das überhaupt noch passieren wird. Das Management des GIZ habe die Lage in Afghanistan völlig falsch eingeschätzt, glaubt er. Sie hätten zu viel Zeit verstreichen lassen. "Sie haben uns nur ein paar nutzlose Nachrichten-Tools an die Hand gegeben, damit wir weiter auf dem Laufenden bleiben."
Er hatte sich darauf verlassen, dass irgendjemand sich um die Mitarbeiter kümmern würde, so wie es versprochen war. Doch das Warten war umsonst. Saif: "Ich bin geschockt, enttäuscht und auch wütend. Was sonst soll man fühlen, wenn eine Institution, für die man jahrelang einsteht, einen in den schwierigen Tagen alleine lässt?"
Es ist nicht einfach nur Enttäuschung über einen Arbeitgeber, die aus ihm spricht, sondern Todesangst. Und sie ist berechtigt. Denn während die Bundeswehr das Land verlassen hat, sind die Taliban allgegenwärtig. Und wer ehemals für den "Westen" arbeitete, ist nun in großer Gefahr. "Meine Familie und ich sind nicht sicher", sagt auch Saif.
Es werde keine Vergeltungsaktionen gegen frühere Mitarbeiter ausländischer Staaten geben, haben die Taliban noch am 17. August bei einer Pressekonferenz verkündet. Saif erzählt aber etwas anderes. Die Vergeltung hätte bereits begonnen. Woher er das weiß? "Ich habe es gesehen."
Erst vor drei Nächten gegen zehn Uhr abends sei direkt in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Racheaktion geschehen. "Ich hörte die Schreie und das Stöhnen. Dann führten die Taliban einen Mann heraus, dessen Frau für die Regierung gearbeitet hatte. Er kam niemals wieder."
Das sei kein Einzelfall, sagt Saif: "Die Taliban tauchen nachts mit Erschießungskommandos in den Wohnungen der Menschen auf, die für die Regierung und ihre Institutionen gearbeitet haben und eröffnen das Feuer." Er selbst traut sich daher gar nicht mehr an die Tür, seine Frau beantwortet die Sprechanlage, wenn es sein muss. Sie sind vorsichtig.
"Ich habe Angst, wenn es Nacht wird. Ich habe Angst, wenn es an der Tür klingelt." So lebt die Familie derzeit eingesperrt in ihren vier Wänden, verharren in Schockstarre und wissen nicht weiter. Saif meidet inzwischen sogar das Internet, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
'Geh doch einfach mal kurz vor die Tür', habe seine Frau zu ihm gesagt. Nur ein paar Schritte. Frische Luft schnappen, um den Kopf frei zu kriegen. "Aber wohin soll ich gehen?", sagt Saif. "Die Taliban sind überall."
Die Stadt, in der er noch bis vor kurzem Einkaufen und Arbeiten ging, sei heute nur noch "schrecklich", eine Geisterstadt, so der Kabuler. "Die Straßen sind leer, die Bildungszentren und die Märkte sind geschlossen. Nur kleine Einzelhändler öffnen ihre Geschäfte – und das unter großer Angst."
Plötzlich unterbricht Saif. Dann sagt er: "Hier am Flughafen gab es eben eine Explosion." Wenige Minuten später vermelden auch die ersten deutschen Nachrichten, was geschah: Am Kabul International Airport sprengten sich zwei Selbstmordattentäter der Terrormiliz IS in die Luft und rissen damit mindestens sechzig Menschen in den Tod, die gehofft hatten, es noch auf einen Flieger Richtung Ausland zu schaffen.
Saif hat gar nicht erst versucht, zum Flughafen zu gelangen. Es wäre zu gefährlich gewesen, die Kinder und seine Frau an den zahlreichen Straßensperren und Checkpoints der Taliban vorbeizuschleusen. Der Weg in die Freiheit hätte zugleich den Weg in den Tod bedeuten können – ein Risiko, das er nicht eingehen wollte.
Dennoch weiß er: Sie müssen weg. "Wenn ich in die Augen meiner Kinder schaue, sehe ich ihre Angst und ihre Panik. Auch meine Liebste fürchtet sich. Ich versuche sie zu trösten, ihnen Mut zu machen", sagt er. Aber womit?
"Die vergangenen zwanzig Jahre haben wir von einer besseren Zukunft geträumt", sagt er. "Doch nun erwarte ich dunkle Tage. Die Taliban waren schon einmal hier. Wir alle wissen, dass sie sich kein Stück geändert haben."
Weltweit beobachten Menschen mit Schrecken, was sich in Afghanistan abspielt. Saif braucht dafür nur aus seinem Fenster zu schauen. Gerne hätte er den Ort verlassen, an dem er gemeldet und damit direkt auffindbar ist. "Aber es gibt keinen Ort, um sich zu verstecken", sagt er. "Wir sitzen in unserer Wohnung fest."
Wie es so weit kommen konnte, hat Saif sich oft gefragt. Er glaubt der Hauptgrund für das Versagen des Aufbaus in Afghanistan sei massive Korruption. "Wir hatten immer Menschen an der Macht, die im Interesse anderer Länder gearbeitet haben, die sich mit Tyrannen, Drogenhändlern und ausländischen Kämpfern zusammentaten", glaubt Saif. "Uns fehlte ein Patriot an der Spitze."
Das Ergebnis sei für alle Beteiligten mehr als bitter. Nicht nur für die Afghanen selbst, die sich in ihrem eigenen Land nicht sicher fühlen können, sondern auch für die deutschen Streitkräfte, gibt Saif zu bedenken: "Vor allem für die Soldaten, die ihr Leben für die Sicherheit Afghanistans gelassen haben. Ich habe großes Mitgefühl mit ihren Familien."
"Trotz Milliarden Dollar an Hilfsgeldern aus der internationalen Community ist es uns nicht gelungen, eine starke Regierung erwachsen zu lassen", sagt Saif. "Milliarden" und "15 Jahre" erwähnt er mehrfach. Als könne er noch immer nicht fassen, wie all die harte Arbeit und all das Geld für nichts gewesen sein soll. "Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass die Taliban Kabul derart schnell einnehmen." Die Regierung hätte doch gegen sie kämpfen können, sagt er, "wenigstens ein paar Tage".
Nun ist es zu spät, die Lage verfahrener als jemals zuvor. Norwegen, Spanien, Großbritannien – immer mehr Länder brechen die Evakuierungen aus Afghanistan ab. Früher, viel früher, hätte reagiert werden müssen, sagt Saif: "Wie ist es möglich, dass die USA trotz der angespannten Sicherheitslage innerhalb von 10 Tagen 72.000 Ortskräfte evakuieren konnte und Deutschland es nicht schafft, ihren vielleicht 5000 Mitarbeitern und deren Familien zu helfen?!"
Genauso wenig, wie er seine Wohnung verlassen kann, kann er mit seiner Wut irgendwohin. Aufgeben möchte er trotzdem nicht. "Ich hoffe, es gibt noch einen Weg für mich, um meine Kinder aus dieser Gefahrenlage herauszuholen", sagt er, "und ich hoffe, dass die GIZ unsere derzeitige Lage begreift und den Prozess beschleunigt, uns hier herauszuholen." Im Fall von Saif ist Hoffnung ohne jede Alternative.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Donnerstagabend nach dem Ende der Luftbrücke verkündet, dass Deutschland weiter "mit Hochdruck" verhandele, um noch mehr Menschen aus Afghanistan zu evakuieren. Wie erfolgversprechend derartige Verhandlungen mit den Taliban sein können, ist jedoch umstritten. "Die Taliban respektieren nichts", so Saif.
Dennoch will er glauben, dass auf seine Familie in Zukunft noch etwas anderes wartet, als eine Schreckensherrschaft. "Ich möchte, dass meine Kinder wenigstens eine Chance haben", so der Familienvater. "Ich wünsche Ihnen, dass sie zu gebildeten und aufrechten Bürgern heranwachsen und später ihrerseits eine Stütze für die Gesellschaft sein können."
Internationale Solidarität ist nun wichtiger denn je geworden. Saif hofft, dass die Menschen überall auf der Welt Afghanistan nicht aufgeben. "Die deutsche Bevölkerung kann uns helfen, wenn sie uns nicht vergisst. Sie können weiter Druck aufbauen, protestieren", glaubt er. Damit die Regierungen und die Hilfsorganisationen sich weiter gezwungen sehen, nach Wegen zu suchen, um ihre Ortskräfte aus Afghanistan zu holen. Und zwar, bevor die Taliban an ihre Tür klingeln.