Interview
Deutschland

Atomenergie-Experte: "Endlager ist noch lange nicht gefunden"

Proteste gegen das Atommüll-Endlager Gorleben
Gegen das Atommüll-Zwischenlager in Gorleben wurde seit Jahrzehnten protestiert. Als Endlager kommt der Ort allerdings nicht infrage, wie Montag bekannt wurde. Bild: imago stock&people / Christian Ditsch
Interview

Experte für Atomenergie: "Endlager ist noch lange nicht gefunden"

30.09.2020, 09:19
Mehr «Interview»

Wohl kaum ein 600-Seelen-Ort ist so bekannt wie Gorleben: Berühmtheit erlangte die Gemeinde in Niedersachsen 1981, als dort ein Atommüll-Lager errichtet wurde. Die endgültige Lösung ist Gorleben letztlich nicht: Dafür hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) am Montag eine Liste von 90 weiteren Gebieten veröffentlicht, die stattdessen als Atommüll-Endlager infrage kämen.

Denn in zwei Jahren soll in Deutschland zwar das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen. Was bleibt, sind aber etwa 1900 Behälter voll mit Atommüll, die für die unvorstellbare Zeit von einer Million Jahren eingelagert werden müssen. Wie und wo das sicher funktionieren kann, weiß bislang niemand so richtig. Auch in Gorleben kommt es deshalb immer wieder zu Protesten gegen den Atommüll.

Was kommt nun auf die Bewohner und Bewohnerinnen der 90 potenziellen Gebiete zu, in denen ein neues Endlager errichtet werden könnte? Wieso kommen plötzlich so viele Standorte infrage? Und gibt es Alternativen zu einem Endlager? Darüber hat watson mit dem Geologen und Sozialwissenschaftler Marcos Buser vom Institut für nachhaltige Abfallwirtschaft (INA) in Zürich gesprochen. Er ist Experte für Kernenergie und die Entsorgung chemotoxischer Sonderabfälle.

"Es wird Anlass für Diskussionen geben."

watson: Heute wurden 90 neue Gebiete verkündet, die als Atommüllendlager infrage kommen könnten. Gorleben ist plötzlich nicht mehr dabei – warum nicht?

Marcos Buser: Das ist eine folgenreiche Frage. Offensichtlich hat die Reevaluation der Geologie ergeben, dass der Standort nicht geeignet ist. Dies wird natürlich Anlass für Diskussionen geben.

Warum ist die Entscheidung so brisant?

Sind geologische Gründe ausschlaggebend, stellt sich die Frage nach dem Warum – wurde Gorleben doch jahrzehntelang als wundervoller Standort verkauft. Hier ist eine Klärung sehr wichtig für Vertrauensbildung und Glaubwürdigkeit. Nun braucht es also im Nachhinein eine historische Aufarbeitung, die zeigt, wo die Beurteilungsfehler lagen. Dies ist für das Verständnis einer Fehler- und Sicherheitskultur – also das hinterfragende und lernende Verfahren – von großer Bedeutung.

Welche Kriterien muss ein Gebiet generell erfüllen, um als Atommüllendlager infrage zu kommen?

In Paragraf 22 sind sechs Ausschlusskriterien formuliert, beispielsweise, dass es in dem Gebiet keine vulkanische Aktivität geben darf. Auch die Tektonik, also ob es sich um ein Erdbebenrisikogebiet handelt, und junges Grundwasser werden berücksichtigt. Ein besonders wichtiges Kriterium ist, dass man keine Bergbaugebiete als Endlager will. Das zeigt, dass ein sehr zentrales Element der Sicherheit berücksichtigt wurde, das ist eine gute Sache.

"Ein Endlager ist noch lange nicht gefunden."

Dem neuen Bericht zufolge sind 54 Prozent der Landesfläche als Teilgebiet für ein Endlager geeignet – warum auf einmal so viel?

Deutschland hat sich jahrzehntelang nur auf Salzgestein als Lagerungsumfeld für Atommüll fokussiert. 1957 hatte ein Bericht der National Academy of Science der USA das Salz in den Fokus gerückt und Deutschland hat sich damals darauf eingeschossen. Seit dem neuen Standortgesetz von 2017 wollte man alle Gesteine, die in der internationalen Diskussion zur Verfügung stehen, integrieren – Kristallin etwa im Süden oder tertiäre Tone in Norddeutschland. Hier ist eine Ausweitung vorgenommen worden, die mehr Fläche für Atommüll-Endlager in Betracht zieht.

Ist unser Endlagerproblem damit gelöst?

Nein, leider nicht, ein Endlager ist noch lange nicht gefunden. Ich habe von den Unterlagen, in die ich Einblick hatte, den Eindruck, dass man sehr vorsichtig an das Ganze herangeht. Die verschiedenen Datensätze aus unterschiedlichen Ländern zu homogenisieren, ist eine gigantische Leistung. Es ist gut, dass Länder und Kommunen aufgefordert werden, jetzt gleich Rückmeldung zu geben oder zusätzliche Informationen einzuholen.

Wie lange wird der Auswahlprozess dauern? Und in wie vielen Jahren wird das Lager realistischerweise in Betrieb genommen werden können?

Der ursprüngliche Plan, das Standortwahlverfahren bis 2031 durchzusetzen ist aus meiner Sicht unrealistisch, einige Akteure haben mittlerweile begriffen, dass das nicht geht. Die Frage wird jetzt sein, inwiefern der Partizipationsprozess den Zeitplan beeinflusst, es braucht ein transparentes, wissensorientiertes, hinterfragendes und lernendes Verfahren. Ich glaube, dass man das in 20 bis 30 Jahren schaffen kann.

"Ich denke, dass die betroffenen Regionen sehr eng in den Entscheidungsprozess mit eingebunden werden müssen."

Kann man schon sagen, welche der 90 Gebiete besonders infrage kommen und warum?

Es ist zu früh, um sich mit einem bestimmten Standort zu beschäftigen.

Wenn man sich dann einmal für einen Ort entschieden hat – wie geht es dann weiter? Gibt es bestimmte Sicherheitsvorkehrungen, müssen vielleicht sogar Anwohner umziehen?

Nein, da muss man sich keine Sorgen machen. Aber mit Sicherheit wird es große Diskussionen geben. Denn die Frage wird sein: Kann man die Endlagerung von Atommüll über eine Million Jahre bewältigen, sozusagen in einem einzigen großen Schritt? Wie will man gewährleisten, dass das funktioniert? Mit wissenschaftlichen Mitteln kann man dies nicht garantieren, man kann nur über Wahrscheinlichkeiten diskutieren. Wenn das Verfahren weiterläuft, wird man automatisch an diese Punkte kommen. Ich denke, dass die betroffenen Regionen darum sehr eng in den Entscheidungsprozess mit eingebunden werden müssen. Man muss sie nicht nur anhören, sie müssen auch mitentscheiden können, was mit ihrem Untergrund passiert.

Es gab vor einigen Jahren Studien, die eine erhöhte Rate von Krebsfällen bei Kleinkindern in unmittelbarer Nähe zu Atomkraftwerken feststellten. Wie ist da der aktuelle Stand der Forschung? Besteht die Gefahr in der Nähe von Atommüllendlagern?

Wir sprechen über sehr geringe Giftmengen und es gibt Grenzwerte, die eingehalten werden müssen – dies gilt übrigens auch für andere Giftstoffe aus Sondermülldeponien oder dem Pestizideinsatz. Das ist ein sehr heikles Thema, weil keine Kausalität hergestellt werden kann, die Ursache-Wirkung-Kette bei sehr geringen Dosen ist nicht da. Das gibt der gesellschaftlichen Debatte einen sehr schlechten Beigeschmack. Ich würde mir wünschen, dass man sich mehr damit auseinandersetzt, wie man das Auslaufen von giftigen Stoffen reduzieren kann. Hier hätte man die Möglichkeit, positiv einzuwirken, indem man die Abfälle nachbearbeitet.

"Wer weiß, wenn Elon Musk seinen Weltraumbetrieb erfolgreich startet, ob man dann nicht irgendwann den Müll in den Weltraum schießt."

Gibt es Alternativen? Was ist beispielsweise an der Transmutation dran, also am Recycling von Atommüll?

Über die Transmutation wurde viel geschrieben, aber nach heutigem Stand ist das nicht umsetzbar. Man kann das natürlich in kleinem Maßstab im Labor machen, aber in großem Maße ist das riskant, extrem langwierig und kostet ein Vermögen.

Das heißt, am Atommüll-Endlager führt erstmal kein Weg vorbei?

Wer weiß, wenn Elon Musk seinen Weltraumbetrieb erfolgreich startet, ob man dann nicht irgendwann den Müll in den Weltraum schießt. Aber für mich sind das Utopien. Wenn wir pragmatisch vorgehen wollen, müssen wir uns der Frage widmen, wie wir die vom Mensch gemachte Radioaktivität so in den tiefen Untergrund bringen, dass man sie nicht wieder herausholt. Im Moment scheint das der gescheiteste Weg zu sein, also gehen wir den. Im Laufe der Zeit wird er immer wieder geprüft werden müssen. Doch die Wissenschaft entwickelt sich wahnsinnig schnell weiter. In fünfzig Jahren werden die Leute lachen über das, was wir heute diskutieren. Der Weg muss offen und völlig transparent sein und immer wieder geändert werden können. Und es braucht eine äußerst selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte.

(ak/ftk)