Mehr als 30 Minuten lang filmte Stephan B. seinen Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Die Tat streamte er live ins Internet – von einer Kamera, die er an seinem Helm montiert hatte. Er tötete zwei Menschen.
Den Behörden war der Mann vorher nicht bekannt. Mittlerweile ist klar: Die Tat war rechtsextremistisch und antisemitisch motiviert. Am Donnerstag wurde er dem Generalbundesanwalt zur Vernehmung vorgeführt.
Wie kann es sein, dass sich jemand radikalisiert und live, vor Publikum im Internet, Menschen tötet? Was können wir als Bevölkerung nach so einer schrecklichen Tat machen?
Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am "KomRex" der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das "KomRex" ist eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Sie vernetzt Experten unterschiedlicher Fachdisziplinen, die sich mit den Themen Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration beschäftigen.
watson: Wie ist es möglich, dass sich ein Mensch derart radikalisiert, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt?
Janine Patz: Ich finde das Bild der Radikalisierung immer etwas schwierig. Daran wird oft geknüpft, dass es Lebenseinschnitte geben muss, die Menschen plötzlich vom humanistischen Glauben fallen lassen. Natürlich gibt es Entwicklungen, dass sich Personen gezielt für ihre Positionen einsetzen wollen, sich organisieren, gegebenenfalls professionalisieren.
Welche zum Beispiel?
Ungleichwertigkeitsvorstellungen, menschenrechtsablehnende Einstellungen, vielleicht sogar entsprechende Weltbilder haben sicher bereits vorher eine Rolle im Leben solcher Menschen gespielt. Entscheidender ist aber was anderes.
Was meinen Sie genau?
Wie gerade das nähere Umfeld menschenverachtende Einstellungen, Verschwörungstheorien oder demokratieablehnende Positionen, aber auch Aktivitäten wahrnimmt: Werden diese als solche verstanden, werden sie ignoriert, toleriert oder gar geteilt? Eine Person, die mit der eigenen menschenverachtenden Ideologie und entsprechenden Taten auf diese Weise Öffentlichkeit sucht, wird sich auch in Vergangenheit entsprechend geäußert haben.
Der Täter hat seine Tat gefilmt und spricht darin auch über sich selbst. Was haben Sie gedacht, als Sie das Video gesehen haben?
Ich finde diese Frage unangebracht.
Moralisch?
Auch. Alle sprechen über dieses verachtende und zutiefst widerliche Video. Medien, Politik, aber auch die Wissenschaft kommentieren diese menschenverachtenden Taten, und alle sorgen dafür, dass es noch mehr Menschen sehen. Alle verbreiten seine Ideologie und spekulieren über ihn. Genau das wollte der Täter und wir bedienen das wieder reflexartig.
Wir konzentrieren uns zu sehr auf den Täter...
In der langen Historie rechten Terrors in Deutschland haben wir immer wieder diese Täterfixierung gezeigt, die Demütigung, die Angsträume und vor allem die Würde der Betroffenen und Opfer wurden dabei ignoriert.
Inwiefern?
Haben wir uns gefragt, wie sich die Menschen fühlen, die ihre Lieben sterben sahen und dies dank der permanenten Reproduktion immer noch sehen müssen? Was ist mit denjenigen, die vom Tod erfuhren, weil sie zum Beispiel die Habseligkeiten ihres geliebten Menschen neben dem Leichentuch auf allen Sendern im Fernsehen erkannten? Das, was im Video zu sehen ist, sollte das Ermittlungsteam, Terrorismusexperten, Psychologen, Juristen auswerten, aber nicht in der aktuellen Form.
Vor einigen Jahren war das ja noch nicht möglich: Was bedeutet es, dass der Täter sein geplantes Massaker bei dem Video-Dienst Twitch gestreamt hat?
Übermacht präsentieren, Angsträume erschaffen, die Permanenz der Grausamkeit, die Demütigung derer, die er als unwert definiert, die Verbreitung neonazistischer, antisemitischer Ideologie, Anerkennung, Geltungsdrang in den eigenen Kreisen, in gewisser Weise etwas für die Ewigkeit schaffen – weltweit.
Denken Sie, die NSU-Morde und der Lübcke-Mord haben etwas in Deutschland freigesetzt?
Vielleicht, dass das Thema rechter Terror wieder etwas in den Fokus rückt, auch wenn es offensichtlich schwerfällt, diese Taten als solchen zu benennen. Womit wir bei den Kontinuitäten sind: die Täterfixierung, die Einsamer-Wolf-Theorie, das Wegwischen vom Fortbestand des rechten Terrors in Deutschland. Dabei vergessen wir etwas.
Was?
Wir suchen verzweifelt nach Erklärungen und der größtmöglichen Schadensregulierung, übersehen dabei aber die Perspektive und Bedürfnisse der Betroffenen. Was die neonazistische Szene betrifft, zeigen ja nicht nur Ihre beiden Nennungen, der NSU und der Lübcke-Mord, dass da nichts plötzlich freigesetzt wird.
Sondern?
Vielmehr müssen wir diese und weitere Anschläge wie beispielsweise München 2016, aber international von Utøya 2011 bis Christchurch 2019 in einer Entwicklungslinie betrachten, dessen Ursprung mehrere Jahrzehnte zurück liegen.
Wenn wir auf uns selbst schauen: Was können wir als Bürger nach einer solchen schrecklichen Tat tun?
Zusammenstehen, Solidarität leben. Aufhören, das Video und die Botschaften des Täters zu teilen.
Wir lenken den Blick auf die andere Seite.
Genau. Es gibt die Perspektiven der Betroffenen, von Überlebenden, von Augenzeugen, Gebetsteilnehmenden und geistesgewärtig Handelnden in der Synagoge, im Imbiss, die sich ebenfalls zu Wort melden, in Videos berichten, Eindrücke schildern. Der Aufruf an alle Menschen: Teilt ihre Botschaft! Es gibt Menschen, die diese abscheuliche Tat nicht überlebt haben, es gibt Hinterbliebene, Verletzte und Traumatisierte, die Unterstützung und Solidarität brauchen – und keine Homestorys. Hört ihnen zu, lasst sie zu Wort kommen, gebt ihnen Raum, wenn sie es wünschen. Lasst uns alle zusammenstehen gegen Antisemitismus, gegen alle Formen der Menschenverachtung und gegen Neonazismus. Das gilt übrigens auch für die Politik, Behörden, Medien oder die Wissenschaft. Die Bereitschaft zu lernen, stände uns gut. Neuseeland hat gezeigt, wie es besser geht.