Nach dem rassistisch motivierten Terroranschlag in Hanau richtet sich wieder viel Interesse auf den Täter. Was aber ist mit den Betroffenen? Ihre Perspektive wird oft nicht beachtet. Dabei sollte auch ihnen unsere ganze Aufmerksamkeit gelten.
Ali Can ist Anti-Rassismus-Aktivist und Buchautor. Bundesweit Bekanntheit erlangte er mit seiner "Hotline für besorgte Bürger". 2018 startete er nach dem Rücktritt Mesut Özils aus der deutschen Nationalmannschaft den Hashtag #metwo, unter dem Betroffene über alltägliche Erfahrungen mit Rassismus berichteten.
Nach dem Anschlag in Hanau ist Can erschüttert – und alarmiert. Er hat Familie in der Kleinstadt in Hessen. Watson sprach mit ihm über die Fassungslosigkeit, die das Attentat bei ihm, seinen Freunden und seiner Familie ausgelöst hat, darüber, wie schlimm die Situation für Betroffene ist und was jetzt dringend passieren muss.
watson: Sie engagieren sich öffentlich gegen Rassismus. Was hat der rassistische Anschlag in Hanau bei Ihnen ausgelöst?
Ali Can: Es ist etwas kaputtgegangen. Das Vertrauen in Institutionen, der Glaube an den Schutz von Minderheiten. Meine Familie glaubt nicht mehr, dass der Staat sie beschützen kann. Meine Freunde, die einen sichtbaren Migrationshintergrund haben, haben den Glauben daran verloren, dass wir den Rechtsextremismus unter Kontrolle haben. Das Urvertrauen in den Staat, in Deutschland ist völlig kaputt gegangen. Es war auch schon bei dem Anschlag in Halle und dem auf Walter Lübcke so, dass wir dachten, das muss doch eine Zäsur sein. Aber der Tenor der Bundesregierung ist immer: Die Stimmung ist besorgniserregend. Aber nie so, dass es reicht. Bei den RAF-Terroristen hat der Staat mit voller Härte reagiert, das fehlt jetzt völlig. Wir fühlen uns dem Terror ausgeliefert.
Das geht sicher nicht nur Ihnen so, oder?
Ich spreche nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie. Wir hatten nie richtig Angst, wir wussten zwar immer, es gibt Leute, die uns hier nicht haben wollen, aber jetzt ist der Eindruck: Man kann uns nicht beschützen. Alle mit einem sichtbarem Migrationshintergrund sind zutiefst getroffen. Das war kein Angriff auf die Nation, sondern gezielt auf Migranten.
Der Anschlag hat also richtig viel kaputtgemacht.
Ja. Was durch den Anschlag aber hoffentlich auch kaputt gegangen ist: Diese Kämpfe zwischen den Parteien, um sich zu profilieren. Hoffentlich kommen die Parteien jetzt endlich zusammen und schöpfen alle Mittel aus. Wir brauchen wirklich einen Masterplan gegen Rechtsextremismus. Bisher gibt es nur Anteilnahme, die Flaggen werden auf Halbmast gehängt und die Kanzlerin sagt, dass Rassismus Gift ist. Aber diese Beileidsbekundungen machen die reale Bedrohung nicht weg. Wir wollen Taten sehen. Es muss jetzt endlich hart durchgegriffen werden.
Was genau meinen Sie damit?
Konkret gesprochen brauchen wir niedrigschwellige Zugänge zu Schutz. Wir brauchen unbürokratische und schnelle Wege zu Polizeischutz, speziell für Orte, wo sich Menschen mit Migrationsgeschichten aufhalten, etwa Moscheen, die immer wieder Zielscheibe werden. Es gab erst vor kurzer Zeit Razzien gegen eine rechte Terrorgruppe, die Anschläge auf Betende geplant hatte. Dazu gibt es Drohbriefe und andere ekelhafte Gesten. Alle Bundesländer müssen ihre Polizeistellen darauf einstellen und ihre Mitarbeiter sensibilisieren. Es braucht mehr Kommunikation und Verständnis.
Welche Orte betrifft das neben Shisha-Bars und Moscheen noch?
Das gilt auch für türkische Hochzeiten. Rechtsextreme suchen sich gezielt Orte, wo sich People of Color, Menschen mit arabischen oder türkischen Wurzeln treffen. Unsere Rückzugsräume sind nicht mehr sicher, wir sind erschüttert bis ins Mark. Da schießt nicht jemand einfach auf der Straße, der geht gezielt in zwei Shisha-Bars. Deswegen brauchen wir konkrete Maßnahmen und bessere Koordinierung. Und wir brauchen Strafen, die so hoch sind, dass Faschisten und Volksverhetzer auch abgeschreckt werden. Der Anschlag sollte auslösen, dass endlich durchgegriffen wird. Es gibt in Deutschland fast 500 Rechtsextreme, die per Haftbefehl gesucht werden. Das ist unfassbar!
Bei der rechten Terrorzelle, die kürzlich ausgehoben wurde, ist mindestens ein Polizeibeamter unter den Verdächtigen. Wie hoch ist das Vertrauen in die Polizei überhaupt noch?
Entnazifizieren wäre das falsche Wort, aber wir müssen alle Strukturen und Ämter auf den neusten Stand bringen, die Mitarbeiter briefen und transparentere Arbeit machen. Es muss auch erkannt werden, wenn sich jemand sensible Daten beschafft. Staatsanwaltschaften müssen Fälle, wo komische Videos oder Texte kursieren, ernster nehmen. Der Terrorist von Hanau hat vorher einen Brief an die Staatsanwaltschaft geschickt, in dem er seltsame Theorien beschrieben hat. Die haben es nicht weiter verfolgt. Behörden spielen vieles herunter. Das ist auch bedrohlich. Man muss die Messlatte heruntersetzen.
Was heißt das konkret?
Das N-Wort zum Beispiel ist immer noch nicht strafbar. Das zeigt schon das Ausmaß, von dem wir hier reden: Rassismus ist in Deutschland immer noch nicht justiziabel. Weidel oder Höcke kommen jedes Mal wieder damit davon. Das ist so schlimm, das ist verbale Munition, die in physischer Gewalt endet. In ihren Filterblasen verbreiten Trolle in Foren Hass, dadurch entstehen sogenannte Schläfer, die irgendwann zur Tat schreiten. Höcke ruft bei Pegida zum Umsturz auf, das ist genau das, was Rechtsterroristen wollen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Rechtsextreme und Reichsbürger sich auf einen Bürgerkrieg vorbereiten. Wir unterschätzen das alles. Wie viele Menschen müssen noch sterben, damit die Gesellschaft das sieht?
Sie haben also den Eindruck, dass solche Anschläge den Nicht-Betroffenen oft gleichgültig sind?
Es gibt Beschwichtigungen und Anteilnahme, dann wird es wieder vergessen. Es hätte eigentlich ständig Sondersendungen geben müssen. Ich habe aber abends um zehn Uhr den Fernseher angemacht. Da liefen Tierdokus. Warum? Das hat doch die Nation erschüttert. Und selbst bei der "Tagesschau" war Alexander Gauland eingeladen. Das ist so sinnbildlich für diesen fatalen Umgang mit Rechtsextremismus. Der wird hofiert, aus falscher Toleranz.
Sie befürchten also, dass kein Umdenken stattfinden wird?
Die Leute werden zur Tagesordnung übergehen, das war immer so. Alles, was die Leute emotional bewegt, wird vergehen. Die Leute gehen wieder in ihren Alltag und vergessen es. Es bleibt nach Anschlägen nie etwas Nachhaltiges, kein großer Einschnitt, keine Gesetz. Für die meisten ist es einfach nur ein weiterer Anschlag, keine Zäsur. Der Staat ruht sich auf einem falschen Verständnis von Toleranz aus. Das können Privilegierte natürlich gut. Aber alle, die einen Migrationshintergrund haben, schreiben mir, dass sie Angst haben.
Wie kann die Öffentlichkeit wachgerüttelt werden?
Auch die Medien müssen reflektieren, wie berichten wir über Shisha-Bars? Hier im Westen werden viele immer wieder mit mehreren Polizeiwagen durchsucht. Das sind Einsätze wie in Hollywoodfilmen. Meistens finden sie ein paar Gramm unversteuerten Tabak und das war's. Was dabei herauskommt, sind immer wieder Artikel über Razzien, so entsteht ein schlechter Ruf, und das trägt auch dazu bei, wie Menschen über Shisha-Bars denken. Nämlich negativ. Deshalb suchen Rechtsterroristen solche Orte gezielt aus. Medien müssen darauf achten, wie sie berichten. Dazu müssen die Redaktionen auch diverser sein, damit man überhaupt verschiedene Perspektiven hat.
Als Sie von der Tat gehört haben: Haben Sie da gleich an einen Terroranschlag gedacht?
Als ich es am Mittwochabend gehört habe, hab ich zuerst gedacht, oh nein, ein Racheakt oder ein Bandenkrieg? Ich ermahne mich inzwischen selbst: Solange du nicht sicher bist, wer der Täter und was das Motiv war und nichts bestätigt ist, halte dich zurück. Also bin ich erstmal schlafen gegangen. Das zeigt auch, wie beeinflusst ich durch Medien, Filme oder Kunst bin: Bei einem Mord in einer Shisha-Bar gehe ich erstmal von einem Bandenkrieg aus. Als ich aufgewacht bin und erfahren habe, dass es ein rassistischer Anschlag war, war ich in Aufruhr. Ich habe meine Cousinen und Cousins angerufen, wir waren alle fassungslos. Jeder von uns war das Ziel, jeder von uns war die Zielscheibe. Ein Cousin von mir wohnt neben einer der Bars, ein anderer wollte an diesem Abend noch in eine Shisha-Bar in Hanau gehen.
Sie sind ein bekannter Aktivist. Hat sich irgendjemand aus der Politik mit Ihnen in Verbindung gesetzt?
Heiko Maas hat sich eingeschaltet, zumindest er sucht den Kontakt zu den Betroffenen. Kein anderer Politiker tut das sonst. Klar, Seehofer und andere waren am Tatort, aber wer sucht den direkten Kontakt und fragt, was braucht ihr? Heiko Maas war der einzige. Das ist toll. Aber die entscheidende Frage ist, was können wir jetzt umsetzen? Es geht ein rechter Sturm durch Deutschland.
In einem anderen Interview haben Sie gesagt, dass Sie und Ihre Familie teilweise schon übers Auswandern nachgedacht haben.
Absolut, es geht um Leben und Tod. Auch wenn die Demokratie hier in Deutschland viel besser ist als in der Türkei und es dort auch Rassismus gegen Kurden, Aramäer und Aleviten gibt – hier sind wir offen eine Zielscheibe auf der Straße. Da fragt man sich schon, wo kann man hin, wo ist man geschützt?
Denken Sie auch darüber nach, welche Schutzmaßnahmen Sie ergreifen können?
Ich leite das VielRespektZentrum in Essen. Wir hatten am Donnerstag unsere Ehrenamt-Sitzung. Und wir haben ganz klar überlegt, wie wir den Eingang ins Zentrum in Zukunft gestalten, ob man erstmal klingeln muss, ob wir Überwachungskameras installieren, ob wir uns ein Training von einer Sicherheitsfirma geben lassen. Wir müssen uns als offene Begegnungsstätte Gedanken machen, wie wir Menschen schützen. Ich gebe gerade Lesungen aus meinem Buch, und auch da mache ich mir Gedanken, wie kann ich Leser und Zuschauer schützen. Ich kann mir keine Personenschützer leisten. Wir alle haben richtig Angst, das hatten wir sowieso schon, aber jetzt noch mehr. Es gibt nichts schön zureden. Hier sterben Menschen. Wir werden angegriffen, immer mehr, immer perfider, immer zielgerichteter.
Das klingt alles sehr hoffnungslos. Gibt es gar keine Aussicht auf Besserung mehr?
Doch, wenn jetzt was passiert. Wenn Hanau keine ernsthafte Zäsur ist, kein Ermahnen, kein Weckruf für diverse Akteure aus Behörden, Polizei, Schule, Verfassungsschutz, wenn sich nicht alle wichtigen Institutionen verbinden und einen Masterplan erstellen, dann kommen wir da nicht raus. Dann gibt es den Bürgerkrieg, den die Rechten wollen. Das ist nicht übertrieben, es häuft sich, es gibt genug Vorboten. Es gab 2014/15 die Anschläge auf Asylbewerberheime. Jetzt werden Menschen umgebracht. Das Land hat Neonazis gerade nicht unter Kontrolle, das ist die Lage.