Der unsichtbare Feind lauert unter uns: Beim Restaurantbesuch oder im Gottesdienst, bei Karnevalfeiern oder im Après-Ski reicht ein Handschlag, ein Husten oder ein Kuss, um ihn aus dem Hinterhalt attackieren zu lassen. Das Coronavirus fühlt sich nun mal dort am wohlsten, wo wir uns auch am wohlsten fühlen, dicht gedrängt mit unseren Mitmenschen.
Dass wir das Virus mit unseren Sinnen nicht erfassen können, bis es uns tatsächlich krank macht, ist die eine Tücke. Die andere ist: Wenn wir einen Feind nicht sehen, hören oder anfassen, die Schäden, die er verursacht, vielleicht nicht einmal in unserem direkten Umfeld beobachten, sondern lediglich in den Medien nachverfolgen können – gibt es ihn dann überhaupt?
Während der Corona-Krise wurden nicht nur Stimmen laut, die vor dem Virus selbst warnten, sondern auch solche, die seine Gefahr anzweifelten und das noch immer tun. Oder Machenschaften vermuten, die Corona mutwillig einsetzen, um andere Ziele durchzusetzen. Ein prominenter Vertreter solcher Verschwörungstheorien ist zum Beispiel Vegan-Koch Atilla Hildmann. Er rief in den vergangenen Wochen vor dem Reichstag die Bevölkerung dazu auf, aufzuwachen und zu erkennen, dass die Pandemie nur dazu eingesetzt werden würde, die Demokratie auszuhebeln.
Wie Verschwörungstheorien funktionieren und wer besonders anfällig dafür ist, sie zu glauben – darüber hat watson mit Michael Butter gesprochen. Er ist Professor an der Universität Tübingen und einer der führenden Experten für Verschwörungstheorien. Außerdem erklärt er, ob aus den aktuellen Hygiene-Demos eine neue Bewegung ähnlich der Pegida hervorgehen könnte, woher der Hass auf prominente Figuren wie Christian Drosten kommt und warum die mediale Debatte um den Virologen Verschwörungstheoretiker anstacheln könnte.
watson: Mein Späti-Verkäufer erklärt mir regelmäßig, Corona sei lediglich eine Grippe und in diesem Ausmaß eine Erfindung der Pharmaindustrie, die an den Maßnahmen Geld verdienen würde. Wie kommt er darauf?
Michael Butter: Im Einzelfall ist das schwierig zu bewerten. Vermutlich hat er im Internet einschlägige Seiten gefunden, die solche Theorien vorstellen. Sie werden bereits seit Ende Januar im Internet verbreitet. So richtig Fahrt aufgenommen haben Verschwörungstheorien allerdings erst Anfang März. Weil die Corona-Lage in Deutschland nicht so verheerend ist wie in anderen Ländern, dominiert in manchen Kreisen nun die Annahme, das Virus sei nicht so gefährlich und überhaupt nur aus finanziellen Gründen von der Pharmabranche in die Welt gesetzt worden.
Wie reagiere ich am besten, wenn ich solche verschwörerischen Theorien höre?
Das kommt erstens darauf an, wie sehr Sie sich involvieren wollen, und zweitens, wie sehr der Mensch schon von einer Verschwörungstheorie überzeugt ist. Wenn jemand gerade nur mit einer zweifelhaften Theorie sympathisiert und ein wenig auf ihr herumdenkt, können Sie mit einem Verweis auf wissenschaftliche Fakten dagegen argumentieren. Steckt die Person aber schon zu tief im Thema, kommen Sie mit Fakten nicht weiter, im Gegenteil.
Wie meinen Sie das?
Studien legen nahe, dass Menschen, die von Verschwörungstheorien überzeugt sind, in ihren Positionen bestärkt werden, wenn Sie Gegenargumente nennen. Wer solchen Theorien anhängt, identifiziert sich in der Regel mit ihnen. Sie können dann nur über einen langwierigen Prozess versuchen, Detailfragen zu stellen, sich zu erkundigen, warum die Person ausgerechnet diese Quellen liest und nicht andere und warum er ausgerechnet sie für besonders glaubhaft hält. Das ist allerdings sehr viel Arbeit.
Wie funktioniert denn eine Verschwörungstheorie überhaupt?
Es gibt drei typische Komponenten. Zunächst herrscht die Annahme, dass nichts zufällig geschieht, sondern eine Gruppe im Hintergrund die Fäden zieht. Der Aspekt, dass dies im Geheimen geschieht und die breite Masse so getäuscht wird, ist die zweite Komponente. Und die dritte lautet, dass alles miteinander in Verbindung steht.
In den letzten Wochen sind tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren. Was sind das für Menschen, die nun demonstrieren?
Das ist nach derzeitigem Stand noch wenig erforscht – auch aufgrund der aktuellen Umstände: Als eine Doktorandin unseres Lehrstuhls eine Hygiene-Demo besuchen wollte, musste sie im Anschluss zwei Wochen in Selbstquarantäne, weil bei der Versammlung keinerlei Abstände eingehalten worden sind. Besucht werden die Proteste allerdings nach aktuellem Wissensstand von sehr vielen verschiedenen Menschen: Einige von ihnen verstehen nicht, warum die einen Wirtschaftszweige wieder geöffnet werden, die anderen aber nicht und sehen deswegen ihre Jobs in Gefahr.
Andere sind frustriert, weil sie ihre Eltern im Pflegeheim nicht besuchen dürfen. Impfgegner sind ebenfalls dabei, und natürlich auch überzeugte Verschwörungstheoretiker, darunter auch bekannte Gesichter wie Ken Jebsen. Es sind allerdings längst nicht alle Demonstranten leichtgläubige Spinner, sondern auch besorgte Menschen, die um ihre Grundrechte fürchten.
Können denn all diese so unterschiedlichen sozialen Gruppen gemeinsam für denselben Zweck protestieren?
Es ist typisch für populistische Bewegungen, dass sie verschiedene Gruppen mit diversen Interessen umfassen, die aber dasselbe fordern. Alle diese Gruppen nun als Verschwörungstheoretiker abzustempeln, wäre ein Fehler.
Vor Kurzem sagte Karl Lauterbach im Interview mit watson, die Menschen, die im Netz nun gegen die Köpfe der Corona-Krise hetzten, eine neue Bewegung ähnlich der Pegida gründen würden. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Ich sehe das nicht ganz so dramatisch. Es gibt bei solchen populistischen Bewegungen natürlich auch rechte Gruppen, die versuchen, die Situation für sich zu vereinnahmen. Wer ihnen nun folgt, hat allerdings vermutlich schon vorher mit rechtem Gedankengut sympathisiert. Das haben wir bei Pegida beispielsweise so beobachtet: Wer dort mitgelaufen ist, war vielleicht nicht per se rassistisch, hatte allerdings ein Problem mit dem Islam und ist damit nicht weit von Rassismus entfernt. Wir sehen auch, dass sich die Gruppe der Demonstranten jetzt anders zusammensetzt: Pegida bestand zu gut drei Vierteln aus vorrangig älteren Männern. Bei den Hygiene-Demos beobachten wir Menschen jedes Geschlechts, Alters und Bildungsgrades.
Wie kommt das?
Zumindest was das Geschlechtergefälle angeht, können wir sagen: Normalerweise sind Männer tendenziell empfänglicher für Verschwörungstheorien als Frauen. Auch nimmt die Bereitschaft, an Verschwörungstheorien zu glauben, mit steigendem Bildungsgrad ab. Eine Ausnahme bilden allerdings Verschwörungstheorien mit medizinischem Inhalt: Impfkritiker sind zum Beispiel häufiger weiblich und teilweise auch akademisch gebildet.
Und wie schon erwähnt, Impfkritiker sind eine Gruppe, die wesentlich an den Hygiene-Demos beteiligt sind. Sie werden sich aber gleichzeitig nicht so leicht von rechtem Gedankengut vereinnahmen lassen. Anstatt eine eigene Bewegung ähnlich der Pegida zu gründen, halte ich es allerdings für wahrscheinlicher, dass diese Menschen mittelfristig die AfD wählen könnten. Das ist in meinen Augen die größte Gefahr.
Der Vegan-Koch Atilla Hildmann ist das neue Gesicht der verschwörungstheoretischen Anhänger. Wie konnte er sich dazu entwickeln?
Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. In gewisser Hinsicht zeigt er allerdings ein typisches Profil – er ist männlich und bewegt sich vermutlich nicht in akademischen Kreisen. Vielleicht verspürt er auch ein Gefühl von Machtlosigkeit: Wenn Menschen nämlich unsicher sind und schlecht mit Ambivalenzen umgehen können, sind sie häufig auch empfänglicher für Verschwörungstheorien.
Dass Hildmann allerdings so weit abdriftet, hat viele Menschen jedoch schockiert.
Laut aktuellem Forschungsstand müssen wir davon ausgehen, dass ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung hierzulande an die ein oder andere Verschwörungstheorie glaubt. Davon sind auch Prominente wie Hildmann nicht gefeit. Sie halten sich vermutlich nur stärker zurück, solches Gedankengut in der Öffentlichkeit zu äußern – in Hildmanns Fall zumindest bis vor Kurzem.
Wie kann es sein, dass so viele Menschen an Verschwörungstheorien glauben? Offensichtlich funktionieren sie ja gut, warum?
Solche Theorien bieten zunächst Sicherheit. Außerdem bestätigen sie gegebenenfalls auch Überlegenheit: Denn wer an eine Verschwörung glaubt, hat im Gegensatz zur Masse verstanden, dass im Hintergrund eine Gruppe böser Menschen agiert, die heimlich die Strippen zieht und auf die man mit dem Finger zeigen kann, wenn etwas schiefgeht. Während der Corona-Pandemie kommt noch hinzu, dass die Menschen um ihre Gesundheit und ihre Angehörigen sowie Freunde besorgt sind. Wer sagt, das Virus gebe es nicht oder es sei ungefährlich, muss sich auch weniger Sorgen machen.
Virologe Christian Drosten schien seit Beginn der Pandemie der Mann der Stunde zu sein. So stark, wie die Bevölkerung ihn anfangs feierte, so sehr steht er wegen seiner Studienergebnisse nun auch in der Kritik. Manche Medien scheinen geradezu eine Fehde gegen ihn zu führen. Wie konnte Drosten erst zur Lichtgestalt – und nun zur Hassfigur werden?
Ich glaube, dass er zunächst zum Helden wurde, weil er in einer unsicheren Lage Sicherheit versprochen hat. Während er versuchte, der Öffentlichkeit das Coronavirus zu erklären, wurde er zu einer dominanten Stimme im Diskurs der letzten Wochen. Mittlerweile hat sich die Lage allerdings gewandelt, die Bedrohung durch Corona scheint gebannt. Drostens wissenschaftliche Aussagen scheinen für viele Menschen nicht mehr zur aktuellen Situation zu passen.
Er kann allerdings als Wissenschaftler auch nicht von seinen Theorien abweichen. Es wirkt, als würden die Menschen nun darauf warten, dass Drosten sagt: Es ist in Ordnung, ihr dürft euch wieder mit Freunden treffen, die Familien besuchen, die Kitas und Schulen öffnen. Das kann er allerdings ebenfalls nicht - und er hatte auch niemals den Anspruch, Handlungsempfehlungen zu geben. Als Wissenschaftler weiß Drosten, dass die Wissenschaft die Wahrheit nicht gepachtet hat.
Was meinen Sie damit?
Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Selbst die Naturwissenschaft, die immer so objektiv und belegbar scheint, ist nicht vollkommen vorurteilsfrei. Wenn jemand wie Drosten davon ausgeht, dass Kinder das Coronavirus genauso weitertragen können wie Erwachsene, wird er womöglich seine Daten auch eher in dieser Richtung interpretieren als jemand, der anderer Überzeugung ist. Das ist in der Wissenschaft auch völlig normal. Der Unterschied während der Corona-Pandemie ist allerdings, dass die Öffentlichkeit diesen Diskurs nun so genau mitverfolgt, ohne dass sich bisher ein wissenschaftlicher Konsens herausgebildet hätte. Wer da nicht in den Fachkreisen mit drin steckt, könnte sich von solchen Diskussionen verwirren lassen.
Könnte das nicht wiederum empfänglicher für Verschwörungstheorien machen?
Es ist ein schwieriger Diskurs, der da gerade geführt wird. Wenn Drosten und seine Kollegen nun unterschiedliche Meinungen bezüglich des Coronavirus vertreten, kann es natürlich passieren, dass ein Verschwörungstheoretiker dann sagt: Warum kann meine Theorie nicht genauso gut stimmen? Dennoch sind sich die führenden Virologen Deutschlands darüber einig, dass Corona problematisch ist und eingedämmt werden muss – soweit der Konsens. Dass die Ansichten innerhalb dieses Konsens auseinander gehen können, ist für manche schwer zu verdauen.
Vor allem, wenn diejenigen, die unterschiedliche Positionen vertreten, allesamt als Experten, Doktoren und Professoren erscheinen, kann das Verwirrung stiften: Verschwörungstheoretiker sind süchtig nach Titeln, aber nicht jeder, der einen Titel trägt, ist Experte auf seinem Gebiet. Das sieht man am Beispiel von Wolfgang Wodarg, der das Coronavirus in Zweifel stellt. Während Drosten, dessen Aussagen einigen Menschen nun nicht mehr gefallen, als Marionette von Bill Gates dargestellt wird, wird Wodargs Doktortitel als Beweis für seinen Expertenstatus hergenommen.
Es scheint, als würden einige Menschen die Tatsachen je nach Bedarf auslegen – auf Kosten einzelner Personen. Wie wirkt sich das auf Wissenschaftler wie Drosten aus?
Es wirkt, als würde die aktuelle mediale Kampagne Drosten zum Sündenbock machen. Dabei ist es eigentlich gut, dass der wissenschaftliche Diskurs so öffentlich geführt wird. Aber das hat natürlich seinen Preis, und kann für die sichtbarsten Figuren enorm belastend sein. Momentan werden alle Studienergebnisse rasend schnell online gestellt und besprochen, obwohl sie noch nicht validiert worden sind. Normalerweise wird die meiste Forschung lediglich in Fachkreisen besprochen und dann werden einzelne Ergebnisse auch entsprechend eingeschätzt. Wie wir beim Fall Drosten gesehen haben, wurden aber einzelne Zitate aus dem Kontext gerissen. Das ist ein Problem – vor allem für Menschen, die es nicht gewohnt sind, so stark im Fokus der Medien zu stehen.
Und wie nehmen Sie selbst, der nun auch Wissenschaftler ist, die aktuelle Lage wahr?
Als Privatperson empfinde ich sie natürlich auch als belastend. Aus wissenschaftlicher Sicht finde ich es allerdings höchst spannend, zu sehen, wie die Diskussion in anderen Disziplinen geführt wird. Uns Geisteswissenschaftlern wird immer nachgesagt, dass in unseren Fachgebieten alles so subjektiv sei – die Debatten um das Coronavirus zeigen uns allerdings, dass das auch bei Naturwissenschaften der Fall sein kann. Ich habe in den letzten Wochen gelernt: Unsere Disziplinen unterscheiden sich alle nicht so sehr, wie wir bisher gedacht haben.