Die EU und Großbritannien haben einen Kompromiss beim Brexit erreicht. Die Wende kam am Donnerstag kurz vor Mittag. "Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal – wir haben es geschafft", twitterte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und heftete dem Tweet ein zweiseitiges Schreiben an EU-Ratspräsident Donald Tusk an. "Die Unterhändler haben eine Übereinkunft erzielt", schrieb Juncker. Die EU-Staats- und Regierungschefs nahmen am Abend die Brexit-Vereinbarung an.
Eine Frage, die sich nun viele stellen, ist: Wer musste für diesen Kompromissen stärker von seinen ursprünglichen Zielen abweichen? Wer hat sich mehr bewegt? Und warum war dieser Kompromiss erst jetzt verfügbar, nicht aber für Johnsons glücklose Vorgängerin Theresa May?
Wir haben dazu mit Donnacha Ó Beacháin gesprochen. Er ist Dozent an der School of Law and Government der Dublin City University. Im Gespräch mit watson erklärt Ó Beacháin: "Sicherlich haben sich beide Seiten bewegen müssen, die Briten mehr als die EU. Aber die EU verkauft das nicht so, weil sie weiß, dass Boris Johnson diesen Deal als Sieg verkaufen muss."
"Boris Johnson hat darauf gesetzt, die Stimmen zu bekommen, die May nie bekam", glaubt Ó Beacháin. Er hat sich verspekuliert. Die DUP protestiert lautstark gegen den neuen Deal; dass ausgerechnet die DUP so sehr über das Schicksal beim Brexit entscheidet, hält der Politologe für "eine irrwitzige Situation". Für Ó Beacháin ist das aber keine Überraschung. Es erinnert ihn an den Dezember 2017.
Damals war Theresa May nach Brüssel gereist und hatte endlich eine Lösung für das Problem an der irischen Grenze gefunden. Vermeintlich. Die Lösung damals lautete, Nordirland solle einen Sonderstatus beim Brexit erhalten. Die DUP, eine nordirische Partei und Mays Verbündete im Parlament, lehnte das strikt ab. May reiste daraufhin noch einmal nach Brüssel und der Backstop war geboren.
Die Lösung, die Brüssel und London nun fast zwei Jahre später gefunden haben, sei so ähnlich wie jene, die die DUP damals im Dezember 2017 bereits abgelehnt habe, sagt Ó Beacháin.
Er brüstet sich damit, den verhassten Backstop losgeworden zu sein. Aber die Klausel ist er nur auf dem Papier los, sagt der Politologe:
Die EU habe der Nordirland-Versammlung, dem Regionalparlament Nordirlands, das Recht zugestanden, über die Fortsetzung der neuen Brexit-Regelung abzustimmen. Aber: Die Nordirland-Versammlung ist seit Januar 2017 nicht mehr zusammengekommen – wegen Streitigkeiten der Parteien. "Das schafft Unsicherheit für Unternehmen", sagt Ó Beacháin. Denn die Unternehmen wüssten vor dieser Abstimmung nicht, unter welchem Zoll-System sie nach der Abstimmung arbeiten müssten.
"Das ist nicht ideal", urteilt der Politologe. Er betont aber auch, dass die Mehrheit der Parteien in Nordirland den Backstop unterstützt habe. Die DUP sei in dieser Frage in der Minderheit. Sollte der neue Brexit-Deal wirklich vom Unterhaus verabschiedet werden und sollte das neue Nordirland-Protokoll wirklich in Kraft treten – es wäre eine absolute Neuheit. Eine solche Zollpartnerschaft zwischen der EU und einem Teil eines Drittstaates gab es bisher noch nicht. "Es ist immens kompliziert", sagt auch der Experte Ó Beacháin.