Leben
Interview

USA: Experte erklärt, warum Amerikaner die Waffenliebe verteidigen

January 16, 2021, Carson City, Nevada, United States: A protestor by the name of Cowboy Barbie, with an AR-15 rifle..Trump supporters gather at the state capital to protest before Biden s inauguration ...
Für viele US-Amerikaner ist der Waffenbesitz eng verknüpft mit Freiheit.Bild: IMAGO/ZUMA Wire / Ty O Neil
Interview

"Jede Kultur hat einen blinden Fleck": Historiker vergleicht US-Waffenliebe mit Tempolimit-Debatte

23.09.2023, 12:44
Mehr «Leben»

Rentner, die auf Teenager in der Einfahrt schießen und Amokläufe an Schulen – Deutsche schütteln den Kopf, wenn sie solche Nachrichten aus den USA lesen. Warum halten die Amerikaner an privater Nutzung von Waffen fest, fragen sich viele. Ist das Bildungsferne? Macho-Gehabe?

Die Erklärung findet man in der Geschichte. Volker Depkat ist Historiker und Professor für Amerikanistik in Regensburg. Für watson sprachen wir mit ihm über den Wilden Westen und deutsche Autobahnen.

"Dahinter steckt eine ausgeprägte Demokratieidee, in der jeder einzelne Mensch Macht haben soll, nicht nur Monarchen."
Volker Depkat, Amerikanistik-Professor

Watson: Wo hat die Waffenkultur der USA ihren Ursprung?

Prof. Volker Depkat: Ende des 18. Jahrhunderts erklärten die Amerikaner ihre Unabhängigkeit von England und setzten Maßstäbe, als erste Demokratie, die eine Verfassung niederschrieb. In dieser Verfassung wurde auch der Zusammenhang von Selbstbestimmung und Waffengewalt festgehalten. Im 18. Jahrhundert war es keinesfalls so, dass jeder Mensch Waffen besitzen durfte. Das war ein Privileg der Adeligen, besonders in Europa. Es war also eine demokratische Errungenschaft, dass plötzlich jeder freie US-Bürger das Recht hatte, Waffen zu besitzen.

Neu: dein Watson-Update
Jetzt nur auf Instagram: dein watson-Update! Hier findest du unseren Broadcast-Channel, in dem wir dich mit den watson-Highlights versorgen. Und zwar nur einmal pro Tag – kein Spam und kein Blabla, versprochen! Probiert es jetzt aus. Und folgt uns natürlich gerne hier auch auf Instagram.

Wie ging es weiter?

Im zweiten Zusatz der Verfassung von 1791 wird festgestellt, dass die Bürger einer Republik Waffen besitzen sollten, um die Sicherheit des freien Staates durch Bürgermilizen zu gewährleisten. Waffentragen wird damit als ein Ausweis von Selbstbestimmung definiert; waffentragende Bürger können sich selbst und ihren Staat schützen. Die Gründer der USA wollten ganz bewusst keine stehende Armee aufbauen.

Warum nicht?

Stehende Armeen sind im 18. Jahrhundert die Manifestation monarchischer Herrschaft. Es sind die Könige in Europa, die Armeen unterhalten und häufig Krieg gegeneinander führen, unter denen die Bevölkerung leidet. In den USA heißt es daher bewusst: Eine Republik braucht keine Armee als Instrument möglicher Unterdrückung, sondern es sind die Bürger selbst, die ihren Staat und ihre Familie verteidigen. Das war ein Symbol republikanischer Freiheit und die Abgrenzung vom korrupten, kriegerischen Europa. Insofern fängt der private Waffenbesitz als freiheitliches Experiment, als Utopie an. Dahinter steckt eine ausgeprägte Demokratieidee, in der jeder einzelne Mensch Macht haben soll, nicht nur Monarchen.

May 28, 2022, Houston, Texas, USA: Gun enthusiasts shop for firearms, ammunition and outdoor products at the Phoenix Arms booth Saturday morning at the National Rifle Association s NRA trade show. The ...
Die Vorstellung, dass nur die Obrigkeit über Waffen verfügt, beunruhigt US-Amerikaner. Bild: imago images / imago images

Welche Rolle spielt der Wilde Westen?

Die Expansion der USA in den Westen dauerte von 1800 bis Mitte der 1860er-Jahre. In diesem Zusammenhang wurden neue Gebiete erschlossen, die aber staatlich für eine Zeit lang nicht oder nur sehr schwach organisiert waren. An der Siedlungsgrenze gab es vielleicht mal einen Sheriff, aber wenn es brenzlig wurde, konnte man keine Polizei rufen – sodass Selbstverteidigung notwendig war. Diese Erfahrung verankerte die Waffenkultur tief in die Bevölkerung und wirkt bis heute fort. Das Problem ist, dass die USA weiterhin mit Konzepten aus dem 18. und 19. Jahrhundert operieren, obwohl die Gesellschaft nun überwiegend in Städten wohnt und es eine ausgebildete Polizei und funktionierende Gerichte gibt.

"US-Amerikaner achten sehr genau darauf, dem Staat nicht zu viel Macht zu geben."

Warum hat sich die Waffenkultur nicht parallel zur Gesellschaft modernisiert?

Weil zunehmend auch wirtschaftliche Interessen hinter dem Thema stehen. Im Prozess der Industrialisierung entstehen im 19. und 20. Jahrhundert große Waffenkonzerne, die sich in Lobbys organisieren, vor allem der National Rifle Association (NRA). Diese gut vernetzte Waffenindustrie nutzte alle Möglichkeiten des Marketings, um Waffenbesitz als Inbegriff amerikanischer Freiheit und Selbstbestimmung hinzustellen.

Sen. Mike Braun, R-Ind., speaks at the National Rifle Association Convention in Indianapolis, Friday, April 14, 2023. (AP Photo/Michael Conroy)
Die Waffenlobby setzt bewusst auf die Gründungsväter (NRA-Messe 2023). Bild: AP / Michael Conroy

Sich gegen den eigenen Staat bewaffnen zu wollen, klingt eigenwillig. Woher kommt das Misstrauen?

Auch das geht auf die amerikanische Revolution zurück, bei der die Siedler sich gegen den englischen Staat wehrten – und sich befreiten. Seitdem geht es in der amerikanischen Geschichte um die Begrenzung von Staatlichkeit, um "limited government". US-Amerikaner achten sehr genau darauf, dem Staat nicht zu viel Macht zu geben; sie wollen keinen Fürsorge-Staat.

Wer sorgt sich um die Bürger, wenn nicht ihre Regierung?

Die US-Amerikaner selbst. Das ist eben ein grundlegend anderes Demokratie-Konzept als in Deutschland. Der Staat soll möglichst wenig in wirtschaftliche und gesellschaftliche Angelegenheiten eingreifen, doch umso mehr bedarf es im Gegenzug der individuellen Initiative. Das manifestiert sich in allen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft. Im Bereich der Sicherheitspolitik eben darin, dass jedes Individuum sich selbst verteidigen können soll.

"Bei uns sind Waffen Teil des Gewaltmonopols des Staates."

Ist das der Unterschied zwischen Deutschland und der USA? Auch in Bezug auf Waffen?

Ja. Bei uns sind Waffen Teil des Gewaltmonopols des Staates. Damit folgen wir der obrigkeitsstaatlichen Tradition in Deutschland. Im 20. Jahrhundert haben wir zudem die Entwicklung hin zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat durchlaufen und akzeptiert, dass der Staat im Namen von sozialer Gerechtigkeit Maßnahmen ergreifen kann, die tief ins Private wirken. Dieses Konzept eines Staates, der über das Private des Bürgers bestimmt, wird in den USA sehr kritisch gesehen. Das Thema greift Donald Trump oft auf, wenn er vom "administrative state", dem "deep state" spricht. Die Frage lautet: Darf eine Regierung über den Besitz der Bürger bestimmen, selbst wenn es Waffen sind? Die meisten US-Amerikaner finden, "Nein."

Existiert die Idee, alle privaten Waffen abzuschaffen, in den USA gar nicht?

Das ist eine amerikanische Urangst. Selbst diejenigen, die Waffenbesitz in den USA regulieren wollen, sind sehr behutsam. Um es platt zu formulieren: In der Debatte um die staatliche Regulierung von Waffenbesitz geht es oft nur darum, ob Schnellfeuerwaffen im Supermarkt über die Theke gehen oder doch im staatlich lizenzierten Waffenladen. Alle Privatwaffen abzuschaffen fordert eigentlich kein Politiker und das wäre auch unrealistisch, da die amerikanische Gesellschaft inzwischen bis unter die Zähne bewaffnet ist. Was auf dem Gebrauchtwaffenmarkt läuft, entzieht sich weitgehend staatlicher Kontrolle.

"Dahinter stecken komplett unterschiedliche Verständnisse von Freiheit und Demokratie, das ist keine Frage der Intelligenz."

Deutsche Kneipendebatten über die USA klingen oft verständnislos, à la: "Das sind eben ungebildete Amis, die ballern wollen."

Ich kenne diese Vorurteile, aber das zeigt nur unser Unwissen. Die Befürwortung von privatem Waffenbesitz reicht in den USA durch alle Religionsgruppen und Ethnien, durch alle Parteien und ist weder eine Frage der Bildung noch des Besitzes – das zeigt, wie tief diese Waffenkultur in der amerikanischen Gesellschaft verankert ist. Die Mehrheit der US-Amerikaner würden wohl sagen: Im Gegensatz zu Europa darf unser Staat uns Bürger nicht gängeln und deshalb sind wir auch "the land of the free". Dahinter stecken komplett unterschiedliche Verständnisse von Freiheit und Demokratie, das ist keine Frage der Intelligenz.

Sollten wir in Deutschland also vorsichtig sein, wenn wir über Amerikaner lästern?

Mich erinnert die US-Debatte um Waffen an die deutsche Tempolimit-Diskussion. Wir wissen auch, dass es jedes Jahr Hunderte von Verkehrstoten gibt, weil einige Menschen mit 250 Kilometer pro Stunde über die Autobahn brettern wollen. Aber diesen Preis ist uns das wert.

August 1, 2022, San Antonio, Texas, USA: ANA RODRIGUEZ, right, mother of Maite Rodriguez, who died in a school shooting in Uvalde on May 24, and BERLINDA ARREOLA, grandmother of Amerie Jo Garza, who a ...
Nach Amoklauf: Hinterbliebene in Texas protestieren 2022 gegen ein lokales NRA-Event. Bild: www.imago-images.de / imago images

Halten uns die Amerikaner für ähnlich verbohrt?

Die Amerikaner fahren 55 Meilen pro Stunde (ca. 89 km/h), durch die leere Wüste. Und wir nutzen in einem verstopften Autobahnsystem 200 Kilometer pro Stunde aus. Da fragen Amerikaner durchaus: "Wieso habt ihr diese todbringende Unart nicht längst reguliert?" Genauso wie wir eben sagen: "Völlig irrsinnig, warum ihr Waffen erlaubt." Jede Kultur hat so einen blinden Fleck.

Rotkohl: Was du schon immer über den Weihnachtsklassiker wissen wolltest

Na, schon in Weihnachtsstimmung? Falls nicht, keine Sorge: Spätestens, wenn ihr euch an den Tisch setzt, um das Weihnachtsessen zu verschmausen und den süßlichen Geruch vom Rotkohl in der Nase habt, werdet ihr so weit sein. Zumindest weit genug, um ... naja: zu essen.

Zur Story