Die Reeperbahn, Deutschlands bekannteste Rotlichtmeile, ist seit dem Ausbruch von Corona nur noch ein Ort für Cocktails an Stehtischen. Keine Frauen mit Bauchtaschen am Straßenrand, auch die berüchtigte Herbertstraße ist wie leergefegt. Eigentlich. 80 der dort arbeitenden Sexworker marschierten zuletzt unter dem Motto "Herr Tschentscher, wir müssen reden..." maskiert und mit Plakaten ausgestattet über das nasse Pflaster Hamburgs. Ihre Forderungen: Lasst uns wieder arbeiten!
Watson war vor Ort und sprach mit einer der Sexarbeiterinnen, Jenny, über das anhaltende Berufsverbot der Prostituierten aufgrund von Corona, Hygienekonzepte in Bordellen und Angst vor drohender Armut.
Die roten Tore zur Hamburger Herbertstraße sind massiv und eigentlich als Sichtschutz für das Treiben dahinter gedacht, denn hier bieten Sexarbeiterinnen Kunden ihre Dienste an. Frauen ist der Zugang verboten, sofern sie nicht dort arbeiten, damit Freier nicht abgelenkt werden und unentdeckt bleiben. Doch das ist momentan eigentlich gar nicht nötig. Denn die Bordelle hinter den Toren sind vollständig leer, die Barhocker verlassen, die roten Lampions vor den Jugendstilhäusern ausgeschaltet. Hier arbeitet seit fast fünf Monaten niemand mehr.
"Wir waren die erste Branche, die geschlossen wurde und sind die letzte, die öffnen darf", ärgert sich Jenny im Gespräch mit watson. Sie ist 37 Jahre alt und seit gut 16 Jahren Prostituierte. "Wegen des Geldes", sagt sie. "Aber auch weil ich hier frei sein kann, selbstständig arbeite und mir der Kontakt zu den Freiern Spaß macht." Eben diesen Kontakt hat sie seit Frühjahr nicht mehr gehabt. Anfangs war das noch auszuhalten, sagt sie. Doch inzwischen hat sie kein Erspartes mehr, ihr droht die Obdachlosigkeit: "Man baut sich ein Leben auf und plötzlich bricht alles weg."
Anfang 2020 meldete ihr Vermieter Eigenbedarf an und kündigte ihr die Wohnung, in der sie mit ihrem Hund lebt. An sich nicht dramatisch, doch als dann auch noch das Berufsverbot im März einsetzte, wurde es zum Problem. "Ich finde keine andere Wohnung mehr", erzählt sie. "Ich habe mich schon so oft beworben, aber sobald ich meinen Beruf angebe, ist allen klar: Die verdient gerade nichts. Die kann keine Miete zahlen. Und ich bin wieder raus."
Eigentlich hätte sie die Wohnung schon im Juni verlassen müssen, nur anwaltliche Hilfe hält sie derzeit noch in den vier Wänden, ein wackeliges Konstrukt. "Ich lebe momentan von der coronabedingten Grundsicherung, aber die läuft im August aus." Was macht sie, wenn die Bordelle weiter geschlossen bleiben? Jenny zuckt die Schultern. "Momentan heißt es, im September könnte die Herbertstraße wieder öffnen. Aber auch nur, wenn die Infektionszahlen niedrig bleiben, darauf kann man sich nicht verlassen."
Auf der Reeperbahn sind inzwischen wieder jede Menge Menschen unterwegs, auch am Tag der Sexarbeiter-Demo. Darunter auch Männer, die rechts und links in die Gassen spähen und einige Junggesellenabschiede. Der Markt für käuflichen Sex ist weiter da, ob Verbot oder nicht. Illegal möchte Jenny aber auf keinen Fall arbeiten, auch wenn sie glaubt, dass einige Frauen dazu übergehen könnten, wenn die Rotlichtszene geschlossen bleibt.
"Wir harren aus, so gut es geht", sagt Jenny. "Aber die Frauen sind mittlerweile in finanzieller Not und so werden gerade die ärmsten von ihnen in die Illegalität gedrängt. Dort wären Infektionsketten unkontrollierbar, sie könnten die neuen Superspreader sein. Das muss die Politik verhindern. Jetzt ist der Zeitpunkt zu öffnen, damit das gar nicht erst passiert."
Jenny versteht nicht, warum sie im Fitnessstudio vor sich hinhecheln darf, nicht aber mit Mundschutz auf einem Bett. Sie versteht auch nicht, warum 25 Menschen inzwischen zu Hause eine Party feiern dürfen (Sex nicht ausgeschlossen), sie aber nicht einen Freier im Zimmer empfangen darf. "Wenn ich die Straße runtergehe, sehe ich Menschengruppen aus vier, fünf Haushalten, die ohne Maske miteinander scherzen und im Restaurant essen. Wenn ich das sehe, muss ich ganz salopp sagen: Ich fühle mich verarscht!"
Im Berufsverbot für Prostituierte stecke mehr Vorurteil als Wahrheit, meint sie. Es spiele den Politikern in die Hände, die das Rotlichtmilieu sowieso unterbinden wollten. In ihrem Berufsalltag gäbe es nur Eins-zu-Eins-Kontakt und oft werde Sex sowieso zur Nebensache, wenn sich ein Mann auf ihr lila Laken begibt. "Eigentlich bin ich eher wie eine Therapeutin auf St. Pauli", sagt sie. "Viele Männer wollen vor allem quatschen, ihren Alltag hier loswerden."
Wenn ein Freier kommt, wüschen sich beide als Erstes die Genitalien und Hände am Waschbecken, das gegenüber vom Bett angebracht ist und von Seifenspendern gesäumt wird, nach dem Akt noch einmal. Nach jedem Kunden würde das Bett frisch bezogen und genutzte Objekte sowie Hände desinfiziert. "Das einzige, was unter Corona neu hinzukäme, wären die Masken, die auch während des Akts getragen würden."
Im Gegensatz zu Friseuren oder Kellnern hält Jenny die Prostituierten sogar für besser an solche Konzepte gewöhnt. "Wir sind Hygieneprofis, wir haben schon immer damit zu tun gehabt", sagt sie. Nicht zuletzt, weil keine krankheitsbedingt ausfallen möchte, nur, um dann ohne Einkommen dazustehen. "In Zeiten wie diesen würde ich nicht mal einen Kunden annehmen, der offensichtlich Husten hat. Das wäre kein Geld der Welt wert, ich will doch selbst gesund bleiben."
Auf St. Pauli ist der Zusammenhalt enorm groß, sagt Jenny. Das ist auch während des Protests spürbar, als eine ältere Nachbarin ihr Fenster öffnet, um den Frauen zuzurufen: "Ich hatte Gänsehaut, als ihr da rauskamt, Mädels! Ganz toll." Hier kennt jeder die Frauen, die hinter den Schaufenstern arbeiten und nimmt sie ernst. Nur draußen, sagt Jenny, werde ihnen gerade jeglicher Verstand und Verantwortungsbewusstsein abgesprochen. "Das ist verletzend und beleidigend, das geht mir wirklich nahe. Als wären wir zu dumm, um uns an Corona-Regeln zu halten. Dümmer als alle anderen Berufsgruppen des Landes."
Die letzten Monate verbrachte Jenny vor allem zu Hause, mit anschwellenden Existenzängsten. "Das beschäftigt mich Tag und Nacht. Ich möchte nicht in der Armut landen, ich bin kurz vor der Pleite. Deshalb muss ich jetzt kämpfen."
In anderen Ländern wie Österreich und Schweiz ist Prostitution schon wieder erlaubt, die Grenzen dorthin sind auf – ein Freier kann sich also jederzeit dort bedienen lassen. Nur eben nicht zu Hause. Warum deutsche Politiker dieses Thema noch nicht angegangen haben, versteht Jenny nicht: "Wir fühlen uns ausgegrenzt, nicht wahrgenommen. Wir sind körpernahe Dienstleister, wir zahlen auch Steuern und wollen behandelt werden wie jede andere Branche."
Die Sexarbeiterinnen fordern, dass Bordelle unter einem Hygienekonzept wieder öffnen dürfen. Zur Datenerfassung wollen sich die Herbertstraßen-Betreiber QR-Codes bedienen, die von den Freiern eingescannt werden. Käme es zu einer Infektion, würden diese Daten gesammelt an das Gesundheitsamt geschickt.
Die Konzepte wären da, die Bordelle bereit, jeden Tag ihre Türen zu öffnen. Sorge, dabei zur Virenschleuder zu werden, hat hier keine der Frauen. "Ich habe überhaupt keine Angst, wieder zu arbeiten. Ich stehe komplett hinter meinem Job", sagt Jenny. "Ich habe nur Angst, dass die Fallzahlen wieder steigen und wir in der Unsichtbarkeit verschwinden."