Für die meisten Gütersloher scheint das Leben nach dem gewaltigen Corona-Ausbruch bei Tönnies in ihrem Landkreis endlich wieder normal, die Kontaktbeschränkungen wurden aufgehoben. Das gilt aber nicht für die Arbeiter des Schlachtbetriebs selbst. Sie und ihre Angehörigen müssen noch bis zum 17. Juli in Quarantäne bleiben.
Für die Betroffenen ein Schlag ins Gesicht. Zwei Wochen mehr in Isolation auf engstem Raum, zusammen mit allen Familienmitgliedern und dem verzweifelten Gefühl: Denkt überhaupt noch jemand an uns?
Esther Hartmann schon. Sie sitzt für die Caritas am Corona-Sorgentelefon im Landkreis und erzählt uns, was die Tönnies-Arbeiter umtreibt, die sie derzeit an der Strippe hat.
Esther Hartmann kommt selbst aus dem Landkreis Gütersloh, sie kennt die Gegend und ihre Anwohner gut. Seit zwölf Jahren arbeitet sie hier für den Deutschen Caritasverband. Als im März das Virus ausbrach, setzte sie sich ans Corona-Sorgentelefon. Anfangs riefen vor allem Eltern an, die fragten, wie sie die Kinderbetreuung organisieren sollten, erzählt die diplomierte Sozialpädagogin. Fragen also, die im ganzen Land Menschen beschäftigten. "Doch nach und nach entspannte sich die Lage und es wurde ruhiger. Ich ging sogar drei Wochen in den Urlaub – ohne zu wissen, was mich bei der Rückkehr erwarten würde..."
Ein Massenausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik. Über 1500 Infizierte, eine Katastrophe für die Anwohner des Landkreises in Nordrhein-Westfalen. Gütersloh wird zum Synonym für einen erneuten Lockdown. "Die Telefone standen nicht mehr still", erzählt Hartmann. Nicht nur Tönnies-Arbeiter riefen an, auch verängstigte Bürger, die Sorge hatten, weiter Fleisch zu essen. "Es gab eine große Verunsicherung."
Besonders hart traf es jedoch die Menschen, die tatsächlich bei Tönnies oder deren Subunternehmern angestellt sind. Sie wurden schlagartig isoliert, durften ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. "In der ersten Woche hieß es, dass die Menschen in Quarantäne mit Lebensmitteln durch Subunternehmer von Tönnies unterstützt werden und das hat auch ganz gut geklappt, am Anfang. Zunehmend wurde es allerdings chaotisch", berichtet Hartmann.
Nun erlebt sie am Telefon tagtäglich die Ausuferungen des Lagerkollers. Denn nicht nur die Tönnies-Mitarbeiter selbst, auch ihre Angehörigen sind von der Quarantäne betroffen. Häufig würden bei ihr Frauen anrufen, die mit den Kindern zu Hause völlig überlastet sind und große Existenzängste hätten. Wie sollen sie ihrem Arbeitgeber deutlich machen, dass sie weiter ausfallen? Und wie soll eine selbstständige Friseurin weiter an Geld kommen?
"Viele weinen am Telefon. Da rufen Frauen an und sagen: 'Ich kann nicht mehr. Ich sitze hier seit Wochen mit meinen drei Kindern auf wenigen Zimmern und habe Angst'", schildert Hartmann ihre Erlebnisse.
Esther Hartmann versucht zu helfen, dringende Fragen an die Ämter weiterzugeben, manchmal verweist sie auch auf den Krisenstab oder das Lagezentrum: "Aber manchmal hilft es nur noch, einfach mitzuschimpfen und zu sagen: 'Ich weiß auch nicht, warum das so geregelt ist und kann verstehen, dass Sie sehr erschöpft sind.' Das tröstet oft schon. Viele bedanken sich, dass sie über ihren Frust sprechen durften. Da hat sich so viel aufgestaut."
Bislang erzählt sie, hätten die Behörden oft ihr Bestes gegeben, um der ungewöhnlichen Situation Herr zu werden, doch mittlerweile würde man merken, dass auch die Ämter überlastet seien. "Inzwischen heißt es oft nur: 'Ich kann mich auch nicht um jeden Einzelfall kümmern.'"
Es herrsche "Chaos pur": "Ich höre von den Leuten, dass das mobile Team, das die Corona-Tests macht, gar nicht kommt, oder viel zu oft, dass Tests verloren gingen. Und wenn die Betroffenen eine Anfrage bei den Behörden stellen, stehen sie gerade nicht auf dieser oder jener Liste, fallen durchs Raster." So entstünden Versorgungslücken.
Den Menschen fehle es zum Teil an Lebensmitteln und ärztlicher Behandlung. Wenn die Caritas davon erfährt, meldet sie das dem Sozialamt, damit dieses hilft. Ein System, das bislang funktioniert, aber natürlich nur denen hilft, die den Weg zur Caritas finden.
"Wir bekommen nur die Spitze des Eisberges mit, denn viele wissen ja gar nicht, dass es unser Sorgentelefon gibt", gibt Hartmann zu bedenken.
Wer von den Inflationsmaßnahmen betroffen ist, wirkt Hartmann zufolge zuweilen willkürlich. Erst am Dienstag habe sie jemand angerufen, dessen Sohn am 3. Juni nachts einen LKW auf dem Tönnies-Gelände abstellte, um einen Schlüssel in den Briefkasten zu schmeißen. "Er hatte dabei keinerlei Kontakt zu irgendeinem Menschen. Nun ist die ganze Familie in Quarantäne und darf diese nicht verlassen, weil noch ein Test fehlt. Es kommt aber niemand zum Testen vorbei", berichtet sie.
Die mobilen Teams, die unterwegs sind, um auf Corona zu testen, würden oft wie "Überfallkommandos" vorgehen, berichtet sie weiter. Für die Arbeiter, die sowieso verunsichert seien, sei das unheimlich erschreckend: "Da kommen bewaffnete Polizisten in die Wohnungen, unangekündigt. Und dazu die Leute in voller Quarantäne-Montur, die den Abstrich nehmen. Die weisen sich nicht mal aus, sagen nur: 'Wir testen jetzt.'"
Das Absurde: Selbst wenn mehrere negative Tests vorliegen, nützt das den Betroffenen offenbar wenig. "Ich hatte am Telefon bislang nur negativ Getestete, die nicht verstehen, warum sie weiter isoliert werden", sagt Esther Hartmann. Mit einem positiv Infizierten habe sie in all den Wochen nie gesprochen. Sie versuche zwar, den Leuten zu erklären, warum sie trotzdem ausharren müssten, "aber manchmal fehlen mir da selbst die Antworten", gibt sie zu.
Das Hauptthema am Telefon sei Überlastung. Wut auf das Virus und Wut über Tönnies. Viele hätten das Gefühl, keiner höre ihnen zu und sie könnten mit ihrer Verzweiflung nirgendwo hin. Besonders schwierig ist das für die Werkvertragsarbeiter aus dem Ausland, die kaum Deutsch sprechen und dem Behördensprech nicht folgen können.
Extra für sie hat die Caritas daher jetzt drei weitere Mitarbeiter des Projekts "Beratung für Familien mit Werkverträgen" an den Telefonen, die rumänische, polnische und bulgarische Muttersprachler sind. "Was ich höre ist, dass diese Kollegen sehr gut ausgelastet sind momentan."
Die Anrufer hätten viele Fragen, auch was ihre Rechte als Arbeiter betrifft, wie sie sich wehren können gegen das Unrecht, das ihnen widerfuhr. "Wir reden hier über junge Menschen, 25-Jährige, die kaum zur Schule gingen, in Rumänien aufwuchsen und dann in so ein Arbeitsverhältnis gerieten, in dem sie wie Maschinen behandelt wurden", sagt Hartmann. "Sie haben nur ein Bett, teilen sich Küche und Sanitäranlagen mit fünf Anderen und sitzen jetzt in Quarantäne fest. Keiner fragt, wie es denen geht. Das ist menschenunwürdig."
Wie schlimm die Zustände seien, hätten viele im Landkreis auch schon vorher gewusst, doch nun sei es wohl allen endgültig klar. Ob das politische Konsequenzen nach sich zieht? Hartmann ist skeptisch, denn bislang sieht es nicht danach aus. Eine Erkenntnis, die für sie und ihre Kollegen hart ist: "Was uns so frustriert ist, dass man die Unterkünfte und all diese Einzelschicksale kennt und am Ende des Tages geht man nach Hause und fragt sich: Was habe ich eigentlich erreicht? Manchmal kann man nicht weiterhelfen. Dann legt man das Telefon auf und ist richtig traurig."