Rieke Strehl (35) unterrichtet schon lange digital. Trotzdem dürfe man den persönlichen Kontakt nicht vernachlässigen, sagt sie. Bild: privat
Nah dran
14.02.2021, 11:0014.02.2021, 10:59
rieke strehl
Zur Schule gehen, das hieß mal: Den Rucksack packen, hinlaufen, -radeln oder -fahren, die Treppen zum Klassenzimmer hochsteigen und sich auf einen Holzstuhl möglichst neben dem besten Freund in Stellung für den Unterricht bringen. Seit März 2020 beginnt ein Schultag für viele allerdings anders – nämlich mit einem Log-In am Laptop im Kinderzimmer. Das klingt für ein paar Tage gemütlich, doch inzwischen haben viele Schüler und Schülerinnen Wochen und Monate des Distanzlernens hinter sich und sind es nur noch leid. Das beobachtet zumindest eine Lehrerin aus Hessen.
Rieke Strehl ist Studienrätin für Mathe und Chemie und unterrichtet an einer beruflichen Schule in Offenbach am Main. Als "MC Strehl" erklärt sie im Netz beispielsweise lineare Gleichungen und berichtet aus ihrem Lehreralltag. Ein Beruf, den sie mit Leidenschaft ausübt, sagt sie. Gerade deshalb macht es ihr Sorgen, zu sehen, wie deprimiert die Schüler durch das andauernde Homeschooling wirken. Bei watson berichtet sie, was den Schülern fehlt und warum es nicht reicht, Aufgabenpakete zu verschicken.
"Am Anfang der Corona-Krise war das noch nicht so schlimm, aber mit jedem Lockdown merkt man, wie die Motivation weiter nachlässt."
Ich unterrichte sowohl im Präsenz- als auch im Distanzunterricht. Ende Januar hatte ich ein Erlebnis in einer digital betreuten Klasse, das mich nach wie vor sehr nachdenklich macht. An einem Tag gaben nur noch ein Drittel meiner Schüler die Aufgaben ab. Früher hätte ich mich sicherlich sehr darüber geärgert. Mit der Zeit habe ich aber angefangen, nach Ursachen zu fragen. Ich habe also mit jedem Einzelnen von ihnen gesprochen und ein Gespräch mit der Gruppe geführt. Die Antworten haben gezeigt, wie schwer es den Schülern nach Monaten der Corona-Pandemie fällt, sich für den Unterricht zu motivieren.
Die Motivation lässt mit jedem Lockdown nach
Das größte Problem, von dem fast alle berichteten, war, dass den Schülern die Struktur fehlt. Also: Aufstehen, Frühstück, zur Schule fahren – der rote Faden eben, der uns alle durch den Alltag zieht. Ich glaube, jeder kennt das von sich selbst. Momentan öffnet der Schüler vielleicht noch im Pyjama den Rechner und dann warten da gegebenenfalls riesige Aufgabenpakete auf ihn, für die er häufig nicht einmal Feedback bekommt. Das ist natürlich völlig demotivierend, so sollte Onlineunterricht nicht funktionieren.
"An einem Tag gaben nur noch ein Drittel meiner Schüler aus dieser Klasse die Aufgaben ab."
Die Schüler sagten: "Sie sind die erste Lehrerin, die uns regelmäßig fragt, wie es uns eigentlich geht" und "Wir geben oft Aufgaben ab und wissen dann nicht mal, ob sie richtig waren." Das macht mich nachdenklich. Wir haben doch keine Maschinen vor uns, die wir mit Aufgaben bombardieren können, sondern Menschen, die – außerhalb allen Unterrichts – auch mit anderen Sorgen zu kämpfen haben. Manche haben Eltern mit Existenzängsten oder fühlen sich wie in einem schwarzen Loch, weil ihnen der Austausch mit ihren Freunden fehlt.
Wenn die Motivation nachlässt, kann das natürlich daran liegen, dass die Aufgabe zu schwer war, aber manchmal hat ein Schüler auch einfach einen schlechten Tag. Deshalb frage ich immer nach. Im Gruppengespräch haben sich die Schüler dann sogar gegenseitig Tipps gegeben, was ihnen durch diese Motivationstiefs hilft: Spazieren, Sport machen und weniger Zeit an digitalen Geräten zu verbringen. Diese Dinge können helfen, den Kopf freizubekommen.
"Manche haben Eltern mit Existenzängsten oder fühlen sich wie in einem schwarzen Loch, weil ihnen der Austausch mit ihren Freunden fehlt."
Einiges davon baue ich sogar in den Unterricht ein. Wenn in 90-Minuten-Blöcken die Konzentration nachlässt, lasse ich die Schüler schon mal Liegestütze oder Kniebeuge machen oder nebenbei Musik hören. Es ist immer anstrengend, sich so lange zu konzentrieren, aber momentan ist es für die Teenager noch frustrierender, weil ihnen der Ausgleich in der Freizeit fehlt. Gerade den Schülern, die sonst Fußball oder andere Mannschaftssportarten machen, ist viel weggebrochen. Sich mit Freunden nach der Schule zu treffen, um einfach mal was zu unternehmen, das fehlt eigentlich allen.
Am Anfang der Corona-Krise war das noch nicht so schlimm, aber mit jedem Lockdown merkt man, wie die Motivation weiter nachlässt. Und so gerne ich digital arbeite, ist ein persönlicher Kontakt auf Dauer doch etwas ganz anderes.
Der Präsenzunterricht ist besonders wichtig für die schwächeren Schüler, die dazu neigen, sich nicht per E-Mail oder Telefon zu melden oder dem Unterricht fernbleiben. Das ist durch den Onlineunterricht noch leichter geworden, denn ans Telefon muss man ja nicht gehen. In der Schule kann ich mit dem entsprechenden Schüler gegebenenfalls durch Unterstützung von einem Sozialpädagogen das Gespräch suchen. Außerdem hilft dort auch der soziale Aspekt der Gruppe, denn viele freuen sich ja, ihre Mitschüler zu sehen.
Schwächere Schüler werden abgehängt
Die Schüler, die sowieso hoch motiviert sind, ziehen immer noch gut mit. Der Motivationsabfall betrifft eher diejenigen, die alleine gelassen werden. Die auf einmal selbständig lernen müssen, dies aber vorher noch nie geübt haben. So entsteht ein Teufelskreis: Wenn ich nicht beim selbständigen Lernen unterstützt werde und dies nun monatelang anwenden soll, aber nicht kann, können große Wissenslücken entstehen, die dazu führen können, dass ich dem weiteren Unterrichtsgeschehen nicht folge.
"Die Schüler, die sowieso hoch motiviert sind, ziehen immer noch gut mit."
Ich fände es sinnvoll, solchen Schülern einen Lehramtsstudenten an die Seite zu stellen, der ihnen hilft – die kennen sich im Fach aus, sind aber alterstechnisch nahe an den Schülern dran, und können sich gut in sie hineinversetzen. So kann ein Austausch zwischen Schüler, Student und Lehrer stattfinden.
Aber selbst, wenn man motiviert ist, ist Onlineunterricht nicht leicht. Die Schüler sind zwangsläufig nicht immer alleine zu Hause. Da gibt es Geschwister, die ebenfalls im Onlineunterricht sind und Eltern, die von zu Hause aus arbeiten müssen. Das kann die Konzentration enorm stören.
Sowohl Lehrer als auch Schüler müssen sich mit der Technik erst anfreunden
Ich bin eigentlich ein großer Fan des digitalen Unterrichts und überzeugt, dass er wunderbar funktionieren kann. Ich habe schon anderthalb Jahre vor Corona keine Tafel mehr benutzt und meine Unterrichtsmaterialien stehen der Klasse direkt nach jeder Unterrichtsstunde immer online zur Verfügung, so können selbst kranke Schüler immer auf dem aktuellen Stand sein. Das spart Zeit und ist übrigens auch keine Frage des Alters: Meine Mutter, die auch Lehrerin war, hat noch ein Jahr vor ihrer Pensionierung angefangen, mit einem Tablet zu arbeiten und fand es super.
Das Problem im ersten Lockdown war nur, dass die Lehrer und die Schüler ins kalte Wasser geschmissen wurden. Viele Lehrer wussten nicht, wie sie die Technik-Tools nutzen sollten. Über Nacht mussten man sich mit neuen Lern-Plattformen vertraut machen und sein frisch erworbenes Wissen an die Schüler weitergeben. Die Schüler hatten zwei Hürden zu bewältigen: Nämlich sich mit der Lern-Plattform vertraut zu machen und sich selbständiges Lernen anzueignen. Die Schul-Digitalisierung wurde zwar nach dem Sommer ein wenig besser, aber ich würde mir mehr Möglichkeiten zur Fortbildung wünschen. Für Schüler, aber auch für Lehrer.
"Das Problem im ersten Lockdown war nur, dass die Lehrer und die Schüler ins kalte Wasser geschmissen wurden. Viele Lehrer wussten nicht, wie sie die Technik-Tools nutzen sollten."
Die Technik ist auch ein Thema: Ich hatte am Montag erst wieder das Problem, dass in einigen Räumen der Schule das W-Lan nicht funktionierte. Entweder konnte ich mich gar nicht einloggen oder wurde sofort rausgeschmissen, am Ende habe ich mir über mein Handy einen Hotspot gegeben, um den Onlineunterricht abzuhalten. Die Schüler kennen diese Probleme natürlich auch: Einer von ihnen wohnt in einer Fünfer-WG und warnte mich letztens, dass es sein könne, dass seine Internetverbindung überlastet und er dann weg wäre. Das sind eben Probleme, die im Onlineunterricht zusätzlich dazu kommen.
Die Schüler haben Angst um ihre Zukunft
Der Distanzunterricht bietet für Schulaussteiger außerdem ein ideales Schlupfloch. Im ersten Lockdown hat ein Lehrender diese Chance genutzt. Er hat nie am Onlineunterricht teilgenommen oder eine Rückmeldung per E-Mail gegeben, auch war er telefonisch nicht zu erreichen, somit war einfach nicht mehr greifbar und wurde schließlich ganz von der Schule abgemeldet.
"Sie haben Sorge, dass sie durch Corona noch ein Jahr wiederholen müssen oder wegen ihrer Wissenslücken nicht bis zum Abitur kommen."
Das sind aber wirklich Einzelfälle. Die meisten Schüler haben weiter Interesse an ihrer Schullaufbahn, auch unter diesen erschwerten Bedingungen. Die Schüler der Klasse, die ich zurzeit unterrichte, sind zwischen 16 und 18 Jahre alt und ihre größte Angst ist es, den Sprung in die nächste Stufe nicht zu schaffen. Sie haben Sorge, dass sie durch Corona noch ein Jahr wiederholen müssen oder wegen ihrer Wissenslücken nicht bis zum Abitur kommen.
Es ist aber nicht nur Schulwissen, was ihnen durch die Corona-Zeit geraubt wird. Jeder, der sich in diese Zeit des Lebens zurückversetzt, weiß, dass man sich in dieser Phase noch ausprobiert und seine Interessen erst herausfinden muss. Diese Erfahrungsmöglichkeiten fehlen den Schülern jetzt. Erwachsene haben mit ihrem Job und ihren Kindern Aufgaben, die ihnen in dieser Zeit Halt geben, aber Teenager hängen jetzt in diesem seltsamen Schwebe-Zustand fest und er scheint nicht zu enden.
Protokoll: Julia Dombrowsky