Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie gibt es Geschichten, die zeigen, wie unlogisch politische Regelungen sein können – zumindest aus epidemiologischer Sicht. Eine davon ist die der Schulzes (Name von der Redaktion geändert), einer fünfköpfigen Familie aus Brandenburg: Vater, Mutter und drei Kinder. Vier von ihnen gehören zu Risikogruppen, nur der 13-jährige Sohn nicht. Während alle anderen im Homeoffice und Homeschooling bleiben, um sich nicht zu gefährden, soll er weiter zur Schule gehen, sagt das Amt. Und bringt die ganze Familie damit in eine verzwickte Lage.
"Wir sind verzweifelt", sagt Vater Stefan Schulze im Gespräch mit watson. "Für uns bedeutet dies, dass wir gezwungen werden sollen, unsere Hochrisikofamilie einem erhöhten Risiko für eine Ansteckung auszusetzen. Und die kann bei den uns vorliegen Vorerkrankungen durchaus tödlich enden."
Seit Beginn des Regelbetriebs versuchen die Schulzes deshalb, auch ihren gesunden Sohn vom Präsenzunterricht der 8. Klasse befreien zu lassen. In anderen Bundesländern ist dies möglich, wenn Familienmitglieder gefährdet werden. In Brandenburg stellt man sich bislang jedoch quer. Die Schulzes wendeten sich zuerst an die Schule, dann das Schulamt, schließlich das Ministerium. Bisher ohne Erfolg.
Zwei der Kinder leiden, sowie der Vater auch, unter Kugelzellenanämie, genetisch vererbbarer Blutarmut. Die 9-jährige Tochter musste deshalb schon Bluttransfusionen erhalten, dem Vater wurde die Milz entfernt. Bei einer Kugelzellenanämie kann es in Verbindung mit Virusinfektionen zu einer Verschlimmerung aller Symptome kommen, bis hin zu Organversagen. Die Mutter leidet unter Herz-Rhythmusstörungen und Anstrengungs-Asthma.
So seltsam es klingt: Würde auch das älteste Kind Teil einer Risikogruppe sein, wären die Schulzes momentan sicherer. "Das ist doch absurd", so Mutter Petra Schulze.
Momentan werden die zwei jüngsten Kinder im Distanzunterricht betreut, Lehrer kommen mit Mundschutz einmal die Woche im Garten vorbei, um beispielsweise Klausuren mit ihnen zu schreiben. Die Mutter übernimmt einen Großteil des Homeschoolings. Und das schon seit März. "Ich bin mit den Nerven am Ende", sagt sie. "Die Kinder wollen sich nicht von mir unterrichten lassen, ich bin ja auch keine Pädagogin." Der Distanzunterricht ist daher eine Erleichterung. Doch für den Großen scheint das keine Option zu sein – er soll am regulären Unterricht teilnehmen.
Zuerst hätten sie noch versucht, ihre Situation zu erklären und gemeinsam mit dem Gymnasium eine Lösung zu finden, erzählt Stefan. Atteste wurden vorgelegt, E-Mails gingen hin und her. Doch es wurde keine Einigung gefunden: "Die Schulleitung sagte uns, sie hätten eine Ansage von oben, dass sie keine Ausnahme machen könnten und es gab keine Ideen oder Lösungen, wie man unseren Sohn dann beschulen könnte."
Im Gegenteil: Würde der Junge nicht zur Schule erscheinen, müsse die Familie mit rechtlichen Konsequenzen rechnen, wie einem Ordnungsgeld oder dem Einschalten des Jugendamts. "Die Stimmung ist schlecht. Wir sind in die Rolle der Querulanten gerutscht", erzählt Petra. "Dabei wollen wir einfach nur unsere Kinder schützen."
Die offiziellen Richtlinien des Bildungs-Ministeriums in Brandenburg lauten derzeit: "Für Schülerinnen und Schüler, bei denen Haushaltsangehörige einer Risikogruppe angehören, besteht Schulpflicht im Präsenzunterricht." Vor den Sommerferien konnten sich betroffene Schüler noch mit einem Attest davon befreien lassen. Dass dies plötzlich nicht mehr möglich ist, ärgert nicht nur die Schulzes, auch viele andere beschweren sich darüber online unter dem Hashtag "BildungAberSicher".
In anderen Bundesländer wie Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern werden für ebensolche Kinder übrigens Einzelfall-Lösungen gefunden. Watson bat das Ministerium Brandenburg daher um eine Erklärung für ihren strikten Sonderweg, erhielt jedoch bislang keine Antwort.
"Wir verstehen es nicht mehr", sagt Petra Schulze. "Unentwegt predigen Politiker wie Jens Spahn und Karl Lauterbach, dass der Virus weiter gefährlich ist und Risikogruppen sich schützen sollen, aber in der Praxis werden uns dann solche Steine in den Weg gelegt." Die Familie lebt seit dem Ausbruch von Covid-19 mehr oder minder in Selbstisolation, geht nur zum Einkaufen oder Arztterminen aus dem Haus. Ihre Sportarten haben sie vorübergehend eingestellt, treffen sich nicht mehr mit ihren Freunden, telefonieren stattdessen.
Sollte ihr Sohn nun in die Schule gehen, müsse er konsequenterweise im eigenen Haushalt isoliert von seinen Geschwistern und Eltern leben. Wie soll das aussehen?, fragen sich die Schulzes. Und was, wenn er sich doch mit dem Virus ansteckt? Schließlich halten sich nicht alle Menschen streng an Maskenpflichten und Abstandsregeln.
"Die Schüler sind nachmittags in großen Gruppen zusammen unterwegs, der Virus wird nicht ernst genommen", so Stefan Schulze. Das Ärgerliche daran: Je lockerer alle anderen mit den Regeln umgehen, desto strenger müssen sich die Schulzes einschränken. "Wir fühlen uns alleine gelassen", so Petra Schulze. "Zumal wir ja nichts dafür können, dass wir besondere Vorsicht während der Pandemie walten lassen müssen."
Eine Lösung des Problems ist noch weit entfernt. Nach vier Wochen hin und her haben die Schulzes nun einen Anwalt eingeschaltet, der für ihren Sohn einen Eilantrag auf Befreiung vom Präsenzunterricht beim Verwaltungsgericht Potsdam stellt.
"Wir hätten es gerne außergerichtlich geregelt, aber das war nicht möglich", sagt Stefan Schulze resigniert. "Die so hochgelobten digitalen Lösungen scheint es an den Schulen nicht zu geben. Dabei wäre im letzten halben Jahr doch Zeit gewesen, so etwas anzugehen."
Er und seine Frau hoffen, dass die Klage schnell bearbeitet wird und das Gericht für ihre Familie eine Ausnahme macht. Die Zeit drängt. Nicht nur, weil ihr Sohn immer mehr Unterrichtsstoff verpasst, sondern auch, weil der Herbst kommt und dann steigende Fallzahlen erwartet werden. "Wir wollen ja, dass unser Sohn seiner Schulpflicht nachkommt, aber eben in einem sicheren Umfeld ", sagt Petra Schulze. "Die Randgruppen werden gerade schlichtweg vergessen. Auch uns gibt es. Es kann doch nicht sein, dass wir für unsere Sicherheit so kämpfen müssen."