Es dauerte nicht lange, bis nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine auch die ersten Meldungen über Anfeindungen gegen Russlanddeutsche erschienen. Ein Wirt aus Südbayern habe einem Deutschen mit russischen Wurzeln den Eintritt verwehrt. Eine Professorin des Münchner Universitätsklinikums lehnte die Behandlung russischer Patienten ab. Beide ruderten nach der öffentlichen Empörung zurück und entschuldigten sich.
Auch eine Umfrage des "ARD"-Politikmagazins Report Mainz unter den Innenministerien der Länder und mehreren Polizeipräsidien ergab, dass es bundesweit zu ersten Straftaten gegenüber russischsprachigen Personen kam. Demnach gab es Angriffe gegen vermeintlich russischsprachige Menschen sowie mehrere Fälle von Sachbeschädigungen gegen russische Geschäfte. Das rheinland-pfälzische Innenministerium spricht auf Anfrage des ARD-Politikmagazins von einer “emotional aufgeheizten Lage”. Außerdem kursiert in sozialen Netzwerken das Foto eines vermeintlich aktuellen Drohbriefs mit den Worten "Russenpack, haut endlich hier aus Deutschland ab".
Wir haben drei Deutsche mit russischen Wurzeln, die sich in der Russlanddeutschen Community engagieren, nach ihrer Einschätzung gefragt.
Ira Peter wurde in Kasachstan geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. In ihrem Aussiedler-Podcast Steppenkinder und als Rednerin setzt sie sich mit russlanddeutschen Themen auseinander. Sie ist Stadtschreiberin der ukrainischen Stadt Odessa und ist der Meinung, dass viele der kursierenden Berichte über Anfeindungen von Russlanddeutschen Falschinformationen sind.
"Ich persönlich habe keine Anfeindung erlebt. Ich habe aber von meinen Kontakten in Deutschland gehört, dass es in den Schulen gegenüber Kindern verbale Anfeindungen gab – da sind die Pädagogen jetzt auch schon aktiv geworden. Sie haben eine Anleitung geschrieben für Lehrer, um darüber aufzuklären, wie sie das Thema Krieg einfühlsam in die Schulen bringen. Da ist man schon aktiv.
Was ich wahrnehme, ist, dass in der deutschen Community ganz viele Videos und Bilder geteilt werden. Dort wird beispielsweise gezeigt, dass Supermärkte von Menschen mit russlanddeutschen oder russischsprachigen Hintergrund geplündert oder mit Farbe beschmiert worden sind. Das ist vollkommen irre. Da kennt man weder die Quelle, noch ob das überhaupt echt ist. Das wird aber gerade verbreitet und das ist, denke ich, Teil der Kommunikationskampagne in Richtung der russischsprachigen Menschen in Deutschland, um die Stimmung auf eine Seite zu schlagen.
Klar gibt es vielleicht manchmal Anfeindungen, ein Fünkchen Wahrheit ist da schon drin. Aber wir haben gestern in der Community aktiv beobachtet, dass auf einmal bestimmte Videos verbreitet wurden über WhatsApp, über Facebook und alle Netzwerke, sogar auf Instagram. Und so ein bestimmter Brief wurde verbreitet, der in sehr, sehr aggressivem Ton dazu aufruft, alle Russischsprachigen sollen das Land verlassen, weil sie unerwünscht seien. Selbst Leute, die ich eigentlich für intelligent gehalten hatte, hinterfragen einfach nicht: Wer ist der Absender dieses Briefes und wer bringt das im Umlauf. Das ist schockierend.
Ich bin der Meinung, dass Desinformation unter Strafe gestellt werden muss, das ist einfach sehr gefährlich für unsere Demokratie. Das ist ein sehr, sehr großes Problem, weil gerade ältere, aber auch jüngere Russlanddeutsche die Sachen gar nicht hinterfragen und das glauben. Die denken dann, sie müssten jetzt Angst haben, was einfach vollkommen irre ist."
Roman Friedrich bekommt als Streetworker und Ehrenamtlicher bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland viele Einblicke in die russlanddeutsche Community. Er schätzt die Situation etwas anders ein: Derzeit bekommt er viele Nachrichten von Menschen aus Osteuropa, die angefeindet oder bedrängt werden.
"Gestern gab es in Köln eine Situation, wo eine Lehrerin die Schüler, die aus Russland kommen, dazu aufgefordert hat, aufzustehen und ihre Situation gegenüber Putin zu äußern. Aber auch aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands gab es schon die ersten Meldungen von Menschen, die angefeindet wurden. Ich habe 110 Meldungen, also konkrete Fälle, die wollen ihre Erlebnisse aber nicht öffentlich darstellen, aus verständlichen Gründen. Die wollen kein Fass aufmachen und das Leben ihrer Kinder damit nicht noch mehr erschweren.
Das ist jetzt keine Skandalisierung oder Panikmache, aber das sind konkrete Fälle. Viele, die hier in Deutschland vielleicht seit über 20 Jahren leben, sind mit unserem Hilfesystem wenig vertraut und wissen nicht weiter. Zum Beispiel, dass es eine Anti-Diskriminierungsstellen gibt, dass man sich offiziell bei der Schulleitung oder Schulministerium oder Schulamt beschweren kann. Das sind Wege, die vorher noch keiner betreten hat. Und das schafft viele Unsicherheiten in der Community, viel Ohnmacht und Lähmung.
Zum einen, weil die Russlanddeutschen auch alle in einen Topf geschmissen werden. Ich habe jetzt gerade vor einer halben Stunde eine Meldung von einer ukrainischen Frau bekommen, die in einem polnischen Lebensmittelmarkt total unhöflich behandelt wurde. Weil die Kassiererin vom polnischen Lebensmittelmarkt sie einfach pauschal als Russin abgestempelt hat. Also darunter leiden auch die ukrainischen Leute.
Die Mehrheitsgesellschaft differenziert das nicht so sehr, wer zu welcher Community gehört, wer Russe ist, wer der Ukrainer. Es wird als ein Volk gesehen. Das wäre so wie Ostfriesen mit Bayern zu vergleichen. Der Unterschied ist aber noch größer, von der Mentalität und dem äußeren Erscheinungsbild her gesehen. Das schmeißen aber viele Leute zusammen. Leider gehen auch viele Lehrkräfte undifferenziert oder unsensibel mit dieser Thematik um.
Es gab schon die ersten Berichte im russischen Staatsfernsehen darüber mit konkreten Fälle der Diskriminierung, die wahr sind. Man hätte das natürlich sehr schnell als Propaganda bezeichnen können. Das hätte die Sache viel einfacher gemacht, aber leider haben wir tatsächlich mit diesem Phänomen zu kämpfen.
Es ist sehr schade, dass das russisches Fernsehen darüber berichtet und unser Schulministerium, unsere Antidiskriminierungsstelle und alle anderen nur Lippenbekenntnisse betätigen und keiner, auch nicht die Lehrkräfte oder die Schulleitung, diese Stellen rausstellen. Es muss sofort durchgegriffen werden, bevor rassistische Züge sich noch mehr manifestieren."
Katharina Martin-Virolainen ist eine deutsche Autorin und Kulturschaffende mit russlanddeutschen und finnischen Wurzeln. Sie sieht das Problem von Anfeindungen der Russlanddeutschen eher in den Schulen.
"Ich persönlich habe zum Glück noch keine Anfeindungen erlebt. Man wird aber häufig angefragt, sobald es irgendwelche Reibereien mit oder in Russland gab oder wenn in Russland etwas in Bezug auf Deutschland passiert. Dann kommen auf offener Straße so Fragen wie: "Und was ist da jetzt wieder bei euch los." Man wird automatisch fertig gemacht und man wird darauf auch immer wieder angesprochen. Es wird irgendeine Reaktion erwartet. Ich finde das übergriffig: Wenn ich wo reingehe und ein Brötchen kaufen möchte, dann möchte ich ein Brötchen kaufen und nicht eine halbe Stunde lang über Putin reden.
Ich versuche mich da manchmal auch herauszuhalten, weil man ja nicht automatisch Expertin ist, nur weil man russische Wurzeln hat. Aber momentan bin ich in einer Situation, wo ich sage, da kann ich nicht dazu schweigen, da muss ich auch eine Position beziehen.
Aber ich habe leider in den letzten Tagen auch von meinen Kolleginnen und Kollegen sowie Bekannten einige Nachrichten dazu erhalten. Gerade habe ich ein Gespräch geführt, wo meine Kollegin mir berichtet hat, sie sei mittlerweile schon ganz müde, weil sie ständig auf den Krieg angesprochen wird. Man weiß, dass sie aus Russland kommt und sie wird im Fitnessstudio, von den Nachbarn auf der Straße und in der Bäckerei, also überall angesprochen. Und ganz oft wollen die Leute auch wissen, wie sie dazu steht.
Die mangelnde Aufklärung an den Schulen dazu ist definitiv ein Problem. Gestern haben wir mit den Lehrern, der Schulleitung und dem Elternbeitrag darüber diskutiert, wie wir darauf reagieren. Die berichten, dass russlanddeutsche Kinder in der Klasse auf das Thema angesprochen werden. Die Kinder können am wenigsten dafür. Wir sind alle hier geboren, aufgewachsen, aber die Kinder können ja nicht einmal etwas dazu sagen. Als ich Donnerstagmorgen aufgewacht bin und vom Angriff auf die Ukraine gehört habe, habe ich meinen Kindern tatsächlich gesagt: 'Egal was passiert, redet heute nicht über Russland.'"