Es ist 4:22 Uhr am Morgen als der Zug den Bahnhof im polnischen Przemyśl im Südosten des Landes verlässt. Es ist noch dunkel und das Licht im Zugabteil ist so schwach, dass ich nur mit viel Mühe das Zugticket aus meiner vollgepackten Tasche kramen kann. Was für mich eine Ausnahmesituation ist, ist für Magda Alltag. Für sie ist es immer dunkel. Denn sie ist blind.
Sie hält ihr Ticket längst in der Hand, während ich mit meiner Handytaschenlampe den Chaos in meiner Handtasche beleuchte. Magdas Tasche ist dagegen immer auf dieselbe Art und Weise sortiert. Alles hat seinen Platz, alles hat ein System. Ordnung ist bei ihr überlebenswichtig.
Während wir die alte Eisenbahnbrücke über dem Fluss San überqueren, fragt Magda mich, ob Eis auf dem Wasser schwimmt. Sie weiß ganz genau wo sie sich gerade befindet, denn Przemyśl ist ihre Heimatstadt und in ihrer Erinnerung fest verankert. Sie wurde nämlich nicht blind geboren.
Neues Leben in Berlin
2003 ist Magda nach ihrem Abitur nach Berlin ausgewandert. Damals war sie 19 Jahre alt, voller Neugierde und Pläne. Sie wollte sich ein neues Leben in Deutschland aufbauen.
"In Polen lebten wir in Armut. Man musste lange für eine Wimperntusche sparen."
Berlin kannte sie schon aus ihren Kindertagen, denn ihre älteren Geschwister lebten schon lange mit ihren Familien dort. Während Magda einen Job als Putzfrau suchte, ging es ihr plötzlich immer schlechter. Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Deutschland wurde sie schwach, hatte angeschwollene Lymphknoten und einen Ausschlag auf dem ganzen Körper.
Auch heute noch kommt sie gerne nach Berlin
Magda auf dem Kreuzberg in Berlin.privat
Ein polnischer Arzt in Berlin hatte sie nach einer Untersuchung aufgefordert, sofort nach Polen zurückzukehren und ein Krankenhaus aufzusuchen.
Zurück in Polen kam für sie die Schockdiagnose: Leukämie – mit 19 Jahren. Nach nur wenigen Tagen begann die Chemotherapie. Acht Monate hat sie im Krankenhaus verbracht und auf eine Knochenmarkspende gewartet. Schließlich wurde ein passender Spender gefunden. Ausgerechnet in Deutschland. Nach der Knochenmarktransplantation begann für Magda das Bangen. In solchen Fällen ist erst nach fünf Jahren sicher, ob die Transplantation erfolgreich war.
So sah Magda vor ihrer Krebserkrankung aus
privat
Wenn plötzlich das Licht ausgeht
Während sie sich von den Strapatzen der Krebserkrankung erholte, kam schon der nächste Schicksalsschlag für die junge Polin. Ihr schwaches Immunsystem wurde von der Infektionserkrankung Toxoplasmose angegriffen, was dazu führte, dass sich ihre Augen entzündeten. Doch das blieb lange unentdeckt. Statt einer gründlichen Untersuchung, wurden ihr von den Ärzten Salben verschrieben.
"Leider bin ich in einer schlechten Klinik gelandet. Statt meine Augen zu retten haben sie mich warten lassen und von Termin zu Termin geschickt."
Nach und nach löste sich ihre Netzhaut vom Auge ab. Von Tag zu Tag wurde Magdas Sehvermögen schlechter. Mit 24 Jahren erblindet sie. Heute kann sie bei guten Lichtverhältnissen nur zwischen hell und dunkel unterscheiden und ab und zu starke Kontraste erkennen.
Bei einer Netzhautablösung löst sich eine Schicht der Netzhaut von der Aderhaut ab. Die Sinneszellen werden nicht mehr mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Nach und nach stirbt daraufhin die Netzhaut ab. In Deutschland erleiden jährlich etwa 8.000 Menschen eine Netzhautablösung. Bei einer schnellen Behandlung, kann in den meisten Fällen eine Erblindung verhindert werden.
bvn
"Am Anfang hatte ich Angst aufzustehen. Ich hatte Angst Schritte zu machen. Hat jemand die Tür aufgelassen, bin ich immer dagegen gelaufen."
Der Zug erreicht die nächste Station. Magdas Handy klingelt. Der Klingelton wird vom Sprachassistenten unterbrochen, der den Namen des Anrufers vorliest. Sie hat ein altes Nokia-Handy und inzwischen auch ein iPhone, auf dem sie eine spezielle Software für Blinde hat. Alles, was sie auf dem Touchdisplay anklickt, wird ihr vorgelesen. Das alte Handy nutzt sie zum Schreiben von SMS. "Mit normalen Tasten geht das viel schneller", sagt sie.
Für andere Dinge im Leben gibt es für die heute 35-Jährige keinen technischen Assistenten. Magda ist deshalb oft von anderen Menschen abhängig. Sie kann nicht alleine weite Wege laufen, einkaufen oder Kleidung shoppen. Es hat gedauert bis sie sich selbst angeeignet hat Wasser in ein Glas zu gießen, ein Outfit zusammenzusuchen oder sich zu schminken.
"Ich habe anfangs oft gekleckert. Heute lege ich meinen Finger an den Rand des Glases und fühle, wann die Flüssigkeit kurz vorm Überlaufen ist."
Am schlimmsten war für Magda aber die plötzliche Abhängigkeit von anderen Menschen. In einem großen Supermarkt kommt sie alleine nicht klar. Kleidung kauft sie nur in Begleitung von Freundinnen. Zuhause ist ihr Schrank perfekt sortiert. Anhand des Stoffes erkennt sie ihre Kleidungsstücke. Bei Jeans hat sie oft Schwierigkeiten. "Die fühlen sich alle gleich an", sagt sie.
Magda wirkt heute selbstbewusst. Doch das war nicht immer so:
"Nach meiner Erblindung habe ich mich nicht weiblich gefühlt. Ich habe nicht gesehen, wie ich aussehe. Ich dachte, dass Männer mich nicht mehr als Frau, sondern als Problem sehen."
Neue Stadt, neues Leben
Trotz ihrer Erblindung und den vielen neuen Herausforderungen hat Magda 2008 einen großen Schritt gewagt. Sie wollte nicht deprimiert zu Hause sitzen und auf ihre Träume verzichten. Sie kehrte ihrer kleinen Heimatstadt im Karpatenvorland den Rücken und zog in eine unbekannte Metropole: nach Breslau.
In ihrer Freizeit entkommt sie gerne dem Stadtleben und geht wandern.privat
Kurz darauf begann sie ihr Pädagogik-Studium an der Breslauer Universität. Statt mitzuschreiben hat sie alle Vorlesungen mit ihrem Diktiergerät aufgenommen. Prüfungen absolvierte sie hauptsächlich mündlich. Ihre Bachelor- und Masterarbeit diktierte sie einer Freundin, die für sie am Computer tippte.
"Am Anfang wusste ich nicht, wie ich lernen soll. Ich habe vorher alles immer optisch aufgenommen. Ich erinnere mich bis heute genau an meinen Deutschhefter aus Abiturzeiten."
Auch unsere gemeinsame Zugfahrt zeigt, dass Magda trotz ihrer Selbstständigkeit oft die Hilfe anderer braucht. "Ist die Toilette links oder rechts?", fragt sie mich. Ich begleite sie, um ihr das Abtasten des dreckigen Klodeckels einer Zugtoilette zu ersparen. Zurück in unserem Abteil muss sie Telefonieren. Ein Freund wird sie am Bahnsteig in Breslau abholen und nach Hause fahren.
Magda auf Reisen
In Breslau hat Magda viele Freunde gefunden. Durch eine Initiative, die Reisen für Menschen mit Behinderung organisiert, hat sie viele neue Orte und ihre Leidenschaft fürs Wandern entdeckt. Sie fährt regelmäßig in die polnischen Berge, war schon in Barcelona und Istanbul. Unbekannte Städte erlebt sie durch Gerüche, das Ertasten und die Beschreibungen ihrer Betreuer.
Magda auf einem ihrer Ausflüge in den polnischen Bergen.
Unterwegs in Istanbul
privat
"Barcelona riecht sehr intensiv. Alle Menschen sind sehr stark perfümiert. Und es gibt wenige Bürgersteigkanten."
Große Pläne
Außerhalb der Ausflüge fühlt sie sich oft einsam. Sie wohnt alleine in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einer Stadtrandsiedlung. Doch Magda bemitleidet sich nicht selbst. Sie wirkt taff und geht mit ihrem Schicksal inzwischen mit viel Humor um. Auf Sätze wie "Siehst du wie das ist" antwortet sie mit "Ne, leider sehe ich nicht" und lacht laut auf. Ihre positive Energie beeindruckt mich.
"Ich habe eine zweites Leben geschenkt bekommen. Ich lebe mit der Gewissheit, dass ich heute da bin und morgen vielleicht nicht mehr."
Aktuell lebt sie von ihrer Rente. Bald wird sie sich in ihrem neuen Job dafür einsetzen, dass kulturelle Einrichtungen in Polen, sich an blinde Besucher anpassen. Ihr größter Traum ist es in einem warmen Land am Strand zu sitzen und den Sonnenuntergang zu spüren. "Ich habe noch nie einen Strandurlaub gemacht", verrät sie. Außerdem wünscht sie sich einen Mann an ihrer Seite, der sie liebt und unterstützt.
Während sie verträumt aus dem Zugfenster schaut, muss ich mich für meinen Ausstieg am Krakauer Hauptbahnhof vorbereiten. Magda muss alleine weiterfahren. Bevor ich aussteige schließe ich kurz meine Augen, um besser zu verstehen, wie es sich für sie anfühlt, alleine im Zug zu sein. Ich nehme die Geräusche des bremsenden Zuges plötzlich lauter wahr. Vom Gleis werfe ich noch einen kurzen Blick in unser Abteil. Dann fährt der Zug ab.
Erben: Warum ein Rentner 20.000 Euro an junge Menschen verlost
Klimakrise, Wohnungsnot, Altersarmut – wenn junge Menschen in die Zukunft blicken, geht oft ganz schnell der Optimismus verloren. Gerade wenn man aus einem weniger wohlhabenden Haushalt kommt, stellen sich unausweichlich unangenehme Fragen, zum Beispiel, ob und wie man ein Eigenheim finanziert oder seine Altersvorsorge sicherstellen kann.