Die Erwartungshaltung an das Parteiprogramm der Grünen war hoch. Hörte man den Grünen in den vergangenen Wochen zu, so hätte man meinen können, das Wahlprogramm liefere einen konkreten Plan zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze. Liest man nun aber den veröffentlichten Programmentwurf, so türmen sich neben einigen Lösungsideen auch Unmengen an Fragen auf. Dabei wäre vor zwei Jahren ein solches Programm vermutlich auch für die Grünen undenkbar gewesen – und trotzdem reicht es nicht aus.
Zwischen dem Anspruch der Grünen, in der kommenden Legislaturperiode zu regieren, und den wissenschaftlich notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise verstrickt sich das Programm in Widersprüchen und bleibt an halben Sachen hängen. Während die wissenschaftliche Tatsache, dass Gas ein klimaschädlicher Brennstoff ist, klar benannt wird, spricht das Programm noch einen Satz vorher von Investitionen in Gaskraftwerke und Infrastruktur insofern diese "wasserstoff-ready" seien.
Auch beim Kohleausstieg tauchen Fragen auf: Noch im Sommer kritisierten die Grünen den zu späten Kohleausstieg der Bundesregierung und die damit einhergehende Zerstörung der Dörfer. Den Kohleausstieg streben sie in ihrem Programm zwar rechtzeitig bis 2030 an, wählen jedoch ökonomische Mittel zur Durchsetzung und nehmen dadurch die Planungsunsicherheit der Dörfer in Kauf. Klar wird hierbei: Grün ist nicht gleich klimagerecht.
Und es tut sich die Frage auf, was der tatsächliche Anspruch der Grünen an sich selbst ist – ein zukunftsweisendes Wahlprogramm scheint es noch nicht zu sein. Stattdessen scheint das Programm mit der Angst, versehentlich einen nächsten Veggie-Day zu produzieren, geschrieben worden zu sein – und auch unter der Prämisse, dass man immer noch in der Lage sein möchte, mit der CDU in Koalitionsverhandlungen zu gehen.
Logischerweise fehlt nun die Ehrlichkeit, die zur Bekämpfung dieser Krise nötig wäre. Denn die Klimakrise interessiert weder Veggie-Days, "Bild"-Hetze über "Grünen-Verbote" noch Koalitionsverhandlungen. Sie wird nicht durch programmatische Halbherzigkeit, sondern durch konsequentes Handeln gelöst.
Doch so negativ die Bilanz nun wirken mag, eine weitere Sache wird aus dem Programm ebenfalls klar: Politischer Druck wirkt! Der Widerstand im Dannenröder Forst, der Protest auf der Straße, die unendlichen, unermüdlichen Auseinandersetzungen – sie alle haben die scheinbaren Grenzen des Möglichen auch innerhalb der Grünen verschoben. Das Programm ist eine direkte Konsequenz einer beispiellosen Diskursverschiebung, wie man sie in der Klimapolitik noch nie erlebt hat.
Und stellen wir uns nur einmal vor, die Grünen würden Anfang Juli ein tatsächlich mutiges Programm finalisieren und damit einen politischen Standard für alle Parteien setzen. Denn genau das braucht es: Parteien, die ehrlich aussprechen, was notwendig ist und diesen Standard vorantreiben. Parteien, die ehrlich anerkennen, dass die Bewältigung dieser Krise eine riesige Herausforderung ist, die wir aber trotzdem bewältigen wollen – und können. Parteien, die klarmachen, dass die politischen Standards innerhalb derer wir uns gerade bewegen, nichts als absurd sind.
Denn es ist absurd, dass wir Milliarden investieren, um Kohle künstlich am Leben zu halten. Es ist absurd, dass es normal ist, für das Bahnticket das Vielfache eines Flugtickets zu bezahlen. Es ist absurd, dass der Ausbau von Autobahnen nach wie vor als ein Gewinn von Freiheit deklariert wird. Diese Standards kann und muss ein tatsächlich ambitioniertes Wahlprogramm der Grünen neu setzen.
Der entscheidende Aspekt an dieser Stelle ist allerdings folgender: Auch das klimagerechteste, grünste, ambitionierteste Wahlprogramm der Grünen wird die deutsche Klimaschutzpolitik nicht rumreißen können. Es wird auch nicht reichen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Die Klimakrise ist weder der alleinige Job von Fridays For Future noch von den Grünen. Genau das war einer der größten umweltpolitischen Fehler in den vergangenen 30 Jahren: Dass die Verantwortung für die Lösung der existenziellen Krise unserer Zeit an eine einzige, kleine Oppositionspartei ausgelagert wurde. Dass das scheitern muss, versteht jedes Kind.
Es waren nicht zuletzt wir von Fridays For Future, die vor den CDU-Ministerien gestreikt haben, die zum SPD-Parteitag gefahren sind und sich mit Wannabe-FDP-Profis gestritten haben – und die damit die absurde Illusion der Klimakrise als ein Ein-Parteien-Problem beendet haben. In einer parlamentarischen Demokratie braucht es überparteiliche Mehrheiten, die sich zur Lösung der offensichtlichen Probleme bereitmachen. Der Anspruch an alle Parteien muss ein Plan zur Einhaltung des völkerrechtlich bindenden Pariser-Klimaabkommens sein.
Die Bevölkerung hat diese Tatsache längst verstanden. Schon jetzt geben unzählige Wählerinnen und Wähler aller Parteien an, dass die Bewältigung der Klimakrise für sie eine der entscheidenden Kriterien bei der Bundestagswahl sei. Bei der CDU sagen 26 Prozent der Wähler darüber hinaus, dass sie einer anderen Partei in diesem Bereich mehr Kompetenzen zuschreiben als der CDU (Open Society European Policy Institute 2020). Keine Partei kann sich "keinen Klimaschutz" leisten. Denn die Bevölkerung hat auch verstanden, dass die Klimakrise die wirtschafts-, freiheits-, sicherheits-, und gerechtigkeitsbedrohendste Krise unserer Zeit ist. Keine Partei hat einen tatsächlichen Grund, keinen Klimaschutz zu machen.
Was es jetzt braucht, sind parteiübergreifenden Mehrheiten und Pläne, um die tatsächlich notwendigen Maßnahmen für konsequenten Klimaschutz auch im Parlament zu erzielen. Das bedeutet auch eine Debatte, die wissenschaftliche Fakten anerkennt und sich auf Grundlage dieser mit tatsächlichen Wegen zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze statt mit Scheinlösungen auseinandersetzt. Das einzufordern ist unser aller Aufgabe. Dazu braucht es uns alle gemeinsam auf der Straße – und an der Wahlurne. Wir alle für 1,5 Grad!