Wie verändert die Klimakrise das größte Land der Welt? Und welchen Einfluss hat eine Veränderung des Klimas auf die geopolitischen Machtstrukturen von Russland? Dazu hat watson mit Florian Schierhorn im Interview gesprochen.
Er ist als Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Agrarentwicklungen in Transformationsökonomien (IAMO) in der Abteilung Strukturwandel tätig und hat In den letzten zehn Jahren zu den Folgen der Klimakrise für Russland als größtes Land der Welt geforscht.
Watson: Herr Schierhorn, Sie haben in den letzten zehn Jahren den Strukturwandel der russischen Landwirtschaft und die Auswirkungen der Klimakrise auf das größte Land der Erde erforscht. Welche Folgen wird der Klimawandel für das riesige Land haben?
Florian Schierhorn: Russland ist eines der Länder, das schon jetzt als Profiteur des Klimawandels gehandelt wird – zumindest aus Sicht der russischen Politik und auch großen Teilen der russischen Bevölkerung. Man geht davon aus, dass vor allen Dingen der Norden Russlands mit der zunehmenden Wärme in der Landwirtschaft stark profitieren wird. Das ist wissenschaftlich teilweise fundiert, zumindest was die nördlichen Regionen betrifft. Heute befindet sich der Großteil aller russischen Ackerflächen in der zentralen Schwarzerde-Region, wo auch 80 Prozent der Getreideernten angebaut werden.
Die für den Anbau geeigneten Flächen breiten sich also auch gen Norden aus?
Richtig, denn mit der zunehmenden Wärme wird der sonst hier vorherrschende Winter weniger streng; auch die Wachstumsperiode weitet sich mit dem Temperaturanstieg sogar nördlich der Schwarzerde-Region Richtung Moskau aus. Mit dieser Verschiebung könnte hier also bald eine riesige Fläche für den Ackerbau geeignet sein.
Wieso genau hier?
Die Temperaturveränderungen verschieben die geographische Lage des sogenannten "Getreide-Gürtels" weiter in den Norden. Der lag bislang dort, wo die großen Exportländer für Weizen sind, also in den Klimazonen von Deutschland, Frankreich, den USA, der Ukraine und eben der zentralen Schwarzerde-Region in Westrussland. Die besten Klimakonditionen für den Weizenanbau bieten mit einem Temperaturanstieg dann zunehmend nur noch Kanada, Nordeuropa beziehungsweise Skandinavien und nördliche Regionen von Russland.
Also ergibt sich ein landwirtschaftlicher Vorteil für Russland?
Betrachtet man allein die Entwicklung von neuen Anbauflächen, ist das Argument, dass Russland wirtschaftlich vom Klimawandel profitieren wird, nicht so weit hergeholt. Russland wird damit auch in Zukunft einen höheren Stellenwert und damit noch größere Bedeutung bei der Produktion und beim Export von Agrargütern, vor allem Getreide, haben. Gleichzeitig verringern sich mit zunehmenden Temperaturen die Erträge der Getreideernten in den heute großen und wichtigen Regionen USA, Australien und Südamerika. Dort wird es in den kommenden 30, 40 Jahren immer häufiger zu Ernteausfällen kommen, wenn der Klimawandel so wie jetzt ungebremst weiterläuft. Ihre Erträge werden dabei nicht linear zurück gehen, aber hier nimmt die Häufigkeit von extremen Wetterereignissen immer weiter zu, was zu mehr Dürren, weniger oder viel zu starkem Niederschlag und damit Ernteausfällen führen wird.
Wie sehen die Vorteile für die russische Landwirtschaft konkret aus?
Durch die Klimaveränderungen hat man in den nördlichen Regionen Russlands schon jetzt im Gegensatz zu den Regionen südlich der zentralen Schwarzerde-Region deutlich bessere Wachstumsbedingungen als noch vor 20 Jahren. Also konkret: Längere Wachstumsperioden, warme, gemäßigtere Temperaturen und dadurch auch mehr Wasser statt Schnee, der hier sonst lag. Wenn allerdings jetzt die Schneedecke fehlt, kann der weiterhin auftretende Winterfrost leichter Schäden an den Pflanzen anrichten und führt damit auch hier zu unregelmäßigen Ertragsrückgängen. Und noch einen weiteren vermeintlichen Vorteil hat Russland in der Hinterhand.
Der da wäre?
Das größte Land der Welt hat auch die größten Brachflächen weltweit, also große, ungenutzte Flächen, die vor allem nördlich der Schwarzerde-Region liegen. Diese wurden nur in Zeiten der UdSSR bestellt und konnten sich dadurch in den seitdem mehr als 30 vergangenen Jahren gut erholen, sodass sich Kohlenstoff wieder im Boden und in der Vegetation ansammeln konnte. Wenn diese Brachflächen, die inzwischen teils wieder bewaldet sind, jetzt gerodet und zu Ackerflächen umgepflügt werden, würde aber dieser gespeicherte Kohlenstoff freigesetzt werden und in Form von CO2 in die Atmosphäre entweichen.
Und das wäre problematisch?
Wie unsere Studien herausfinden konnten, haben genau diese Brachflächen mit der Speicherung von CO2 in den Böden in den nördlichen Teilen Russlands den Klimawandel bislang deutlich aufgehalten oder ihm zumindest entgegengewirkt. Werden aber genau diese Flächen bald wieder für den Pflanzenanbau genutzt, dann treibt man den Klimawandel wieder stark an.
Kann die Freisetzung von Kohlendioxid durch eine schonendere Landwirtschaftsweise verhindert werden?
Nein, nicht wirklich. Selbst wenn eine nachhaltige, biologisch besser verträgliche Landwirtschaft betrieben wird, wird bei einer Bestellung von alten Brachflächen trotzdem immer CO2 freigesetzt – eine großflächige Bestellung dieser Flächen wäre also ein Riesenproblem. Diese Kohlenstoffsenken, die in Russland entstanden sind, nehmen rund 40 Millionen Hektar Fläche ein. Das ist viermal so groß wie die deutschen Ackerflächen, und damit eine wirklich riesige, ungenutzte Fläche, auf der bereits viel Kohlenstoff gespeichert wurde und auch in Zukunft viel Kohlenstoff gespeichert werden kann, insbesondere wenn dort ein junger Wald wieder heranwächst.
Es muss also abgewogen werden zwischen dem Für und Wider...
Ja, denn einerseits eignen sich mit dem Klimawandel diese neuen Regionen in Russland bald klimatisch für Agrarwirtschaft. Aber weil dort weniger Flächen für den Anbau zur Verfügung stehen, da viele Gegenden schon wieder bewaldet sind, werden sie sicherlich nicht die hohen Erträge im Süden kompensieren. Andererseits wäre sonst ihre Nutzung – also mit einer Rodung der jungen Bäume und Umpflügen des Bodens – direkt mit einer massiven Freisetzung von Kohlenstoffdioxid und vor allem auch Methangasen verbunden und darf deshalb eigentlich aus Klimaschutzgründen nicht bearbeitet werden.
Welches Szenario bewerten Sie denn für realistischer? Für welchen Weg wird sich das Landwirtschaftsministerium in Russland entscheiden?
Das wird den Russen relativ egal sein, so wie hier in den letzten Jahren auch vor der Krise kaum Umwelt- und Klimaschutz betrieben wurde. Auch wenn man etwas differenzieren muss: Als es zum Beispiel 2010 zu sehr starken Bränden der Moorböden kam, die immer weniger vom Permafrost überzogen sind, war auch Moskau wochenlang in einer Rauchwolke verschwunden.
Also stand der Umweltschutz plötzlich auf der Agenda?
Genau, dadurch war das plötzlich und endlich mal ein Riesenthema in den regionalen Medien und der gesellschaftliche Druck auf die Regierung wurde damals so groß, dass sie reagieren musste. Um die Brände zu verhindern hat man sich erstmalig mal mit dem Problem der Brachflächen beschäftigt: Es wurden dann als Sofortmaßnahmen richtig große Renaturierungsprojekte seitens der Regierung gestartet.
Was wäre denn Ihre Erwartung – wird Russland dann auch in den kommenden 20, 30 Jahren weiter mit Blick auf den Umwelt- und Klimaschutz agieren?
In Russland gibt es natürlich Umweltinitiativen, die sich schon seit Jahrzehnten gegen diese Entwicklung einsetzen, aber sie sind in den letzten Jahren immer schwächer geworden. Ihnen fehlt der Rückhalt vor allem aus der russischen Gesellschaft und der russischen Politik. Und deswegen bin ich da inzwischen schon ziemlich skeptisch, dass da in nächster Zeit mehr für die Umwelt getan werden wird. Ich gehe davon aus, dass alte Brachflächen im Norden immer mehr genutzt werden, weil dort durch die zunehmende Klimaeignung weiterhin hohe Ernteerträge erzielt werden können, während sie in anderen Export-Ländern abnehmen. Das könnte die Preise, vor allem aber den Druck und Einflussbereich von Russland auf die internationalen Wirtschaftsmärkte, immer weiter steigen lassen.
Weil aber die Getreidepreise inzwischen so drastisch gestiegen sind, macht es für die russische Landwirtschaft ökonomisch immer mehr Sinn, die zugewachsenen Brachflächen wieder nutzbar zu machen, wo vielleicht vor fünf Jahren die Preiskonstellation noch gar nicht günstig war und die Kosten viel zu hoch gewesen wären.
Das heißt, Russland würde definitiv Abnehmer für den Weizen finden?
Ja, und zwar selbst dann, wenn der Weizenpreis noch weiter ansteigt: Sei es China oder vor allem afrikanische Länder. Die Länder im Nahen Osten sind extrem angewiesen auf den Weizen aus der Ukraine und Russland. Und wenn dann die Preise hochgehen, dann gehe ich davon aus, dass sich die Ackerflächen, also der Corn-Belt immer weiter Richtung Norden ausdehnen wird – auf Kosten teilweise von Biodiversität und auf Kosten vom weltweiten Klima, weil die CO2-Emissionen dadurch weiter steigen.
Russland hat also mit Agrargütern ein zusätzliches, großes Druckmittel auf die internationale Gemeinschaft?
Russland beziehungsweise Putin fußt sein starkes Selbstbewusstsein vor allem auf der starken Position der russischen Landwirtschaft, die in den letzten zehn Jahren einen kompletten Turnaround geschafft hat: Vor zehn Jahren musste hier noch Schweinfleisch importiert werden, inzwischen wird es nur noch exportiert. Man hat sehr auf die Agrarkarte gesetzt, um vor allem den Anbau von Getreide voranzutreiben. Und ja: Diese Stärke ist inzwischen zu einem Riesenproblem für uns westliche Staaten geworden.
Und diese Abhängigkeit macht Putin sich zunutze?
Putin ist bewusst, dass viele Staaten schon jetzt stark abhängig von russischen Agrarprodukten sind und dass er zum Beispiel in China zumindest theoretisch einen riesigen Absatzmarkt hat. China als alleiniger Absatzmarkt hat sich bisher nur nicht gelohnt, da die Transportkosten von Getreide aus dem europäischen Teil Russlands bis dorthin zu hoch waren. Deshalb wird der Wegfall von Absatzmärkten in Europa und im Nahen Osten auch nicht spurlos an Russland vorbeigehen. Selbst China wird nicht sofort die gleichen Bedarfsmengen einkaufen, die jetzt als Angebot frei werden.
Klingt aber, als sei Putin bewusst, dass Russland davon profitieren wird.
Vom russischen Selbstverständnis her ist man nicht nur bei den fossilen Energiereserven eine Großmacht, sondern inzwischen eben auch im Agrarbereich. Zusätzlich guckt man noch auf die Prognosen zum Klimawandel und die Landschaftsentwicklungen der nächsten 20 Jahre, in denen andere Länder vom Klimawandel bereits deutlich stärker beeinträchtigt werden – und Bingo! Mit solchen Perspektiven in der Hinterhand kann ich mir gut vorstellen, dass sich Großmachtfantasien formieren, wie sie Putin vielleicht momentan schon hat. Ob das aber tatsächlich genau so eintreten wird und ob Putin da so gut wissenschaftlich beraten ist, zweifele ich aber trotzdem an.
Update vom 15.03.2022:
Inzwischen hat Russland die Getreideexporte in vier ehemalige Sowjetrepubliken gestoppt. Laut dem Kreml soll damit die heimische Versorgung gesichert werden. Die UN warnen vor einer internationalen Hungerkrise. Das Interview wurde bereits am 11.03. geführt