"lo fi merkelwave beats to relax/get nothing done to", heißt der mutmaßlich erfolgreichste deutsche LoFi-Clip mit Politiker-Reden. Bild: creenshot youtube/robtake/photoshop
Analyse
Ungewöhnliches Merkel-Video verbreitet sich: Was dahintersteckt
Redefetzen von Angela Merkel, darunter Lo-Fi-Beats: Eine Stunde lang läuft das Video, über 1 Million Aufrufe hat es. Immer mehr solcher Clips gehen online. Was hinter dem Trend steckt – und wie die Videos politischen Parteien nutzen können.
Boris Johnson war der erste. Am 25. November 2019, mitten im Wahlkampf für die britische Unterhauswahl, lud der YouTube-Account der Tories, der konservativen Partei Großbritanniens, einen Clip hoch, der ganz anders war. Anders als die Parteitagsreden, Werbespots, Frage-Antwort-Clips.
Auf dem Clip ist der britische Premierminister Johnson zu sehen, in einem Zug am Fenster sitzend, mit charakteristisch zerzaustem Haar, in eine Mappe vertieft. Am Zugfenster zieht eine Küstenlandschaft in Pastelltönen vorbei, wie aus einem japanischen Anime-Zeichentrickfilm. Zu hören sind die immergleichen Redefetzen Johnsons: Wir müssen den Brexit erledigen, wir werden Geld ins Gesundheitssystem organisieren. Das Ganze ist unterlegt mit ruhigen, weichen Hip-Hop-Beats. Das Video dauert über eine Stunde. Es heißt: "lo fi boriswave beats to relax/get brexit done to". Aufrufe bis heute: fast 895.000.
Das Video "lo fi boriswave beats to relax/get brexit done to", im November 2019 hochgeladen auf den YouTube-Kanal der britischen Konservativen.Video: YouTube/Conservatives
Das Boris-Johnson-Video hat inzwischen scharenweise anderer YouTube-Nutzer inspiriert. Im März lud der User robtake auf seinen Kanal den Clip "lo fi merkelwave beats to relax/get nothing done to", mit der deutschen Kanzlerin in Anime-Ästhetik, mit Redebausteinen von "Das Internet ist für uns alle Neuland" bis zum englischen "Now the door to a new life is opening" auf Lo-Fi-Beats.
Der Merkel-Clip hat den mit Johnson sogar übertroffen: über 1,14 Millionen mal wurde der Kanzlerin-Wave bisher aufgerufen.
Nun hat – über ein halbes Jahr nach den britischen Konservativen – erstmals eine deutsche Partei über einen offiziellen Kanal ein Lo-Fi-Video gepostet: die CSU. Genauer gesagt die CSU-Landesgruppe im Bundestag – über den YouTube-Account, der sich (mit überschaubarem Erfolg) an dem YouTube-Format "CSYou" versucht hatte. Das Video heißt "#LOFI Mut Wave vs. Covid-19 feat. Dobrindt & Merkel & Söder & Spahn".
Was soll das alles? Warum gibt es immer mehr Lo-Fi-Politiker-Videos?
Lo-Fi-Beats, elektronische Musik mit sanften Beats und Knistereffekten, ist seit mehreren Jahren besonders auf YouTube ein enorm erfolgreiches Genre. Auch auf Spotify generiert es schier unglaubliche Klickzahlen. Die Musik dient den meisten Zuhörern offenkundig vor allem als Hintergrund-Soundteppich, der ihnen beim Lesen, Lernen und Entspannen hilft. Schon Ende 2019 existierten laut dem Politik-Magazin "New Statesman" auf der Videoplattform mindestens 31 Millionen "lofi beats to relax to"-Videos. Der populärste Lo-Fi-Kanal "ChilledCow" hat über fünf Millionen Abonnenten – und zwei rund um die Uhr aktive Livestreams, auf denen durchgehend zehntausende Nutzer gleichzeitig zuschauen.
Am populärsten sind die Videos mit den entspannenden Beats in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen. Das schreibt der "New Statesman" in einer Analyse des Boris-Johnson-Videos unter Berufung auf die Agentur Tubular Labs, die auf Social Video spezialisiert ist.
Dass Lo-Fi-Videos bei dieser jungen Altersgruppe besonders populär sind, ist eine erste Antwort auf die Frage, warum politische Parteien offensichtlich ihr Auge auf die Clips geworfen haben: Wer Lo-Fi-Videos mit Politikern veröffentlicht, will junge Menschen erreichen.
Kay Hinz findet diesen Trend in der politischen Kommunikation spannend. Hinz ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler, sein Spezialgebiet sind Wahlkämpfe und Social Media. Mit Blick auf das CSU-Video erklärt er gegenüber watson, es sei "spannend zu sehen, dass Parteien experimentierfreudiger werden und sich trauen, traditionelle Wege der Selbstdarstellung zu verlassen. Das ist wichtig, um innovationsfähig zu bleiben."
Die CSU ist damit aus Hinz' Sicht Lo-Fi-Pionierin in Deutschland. Hinz sagt, dass es bei solchen Trends besonders wichtig sei, früh dabei zu sein. "Aufmerksamkeit erregt man vor allem dann, wenn man Early Adopter ist oder aber, wenn die eigenen Inhalte deutlich hervorstechen", erklärt er.
Was versprechen sich Parteien von den Lo-Fi-Videos?
Die hunderttausenden Aufrufe einiger Politiker-Lo-Fi-Videos bezeugen: Sie sorgen für Aufmerksamkeit im digitalen Raum. Und das, sagt Politikberater Hinz, "in Sphären, in denen Parteien normalerweise nicht so stark vorkommen." Hinz weiter:
"Es werden Personen erreicht, die womöglich auf anderem Wege seltener mit politischen Inhalten in Berührung kommen."
Dabei hilft laut Hinz die besondere Ästhetik der Lo-Fi-Videos: Die Clips seien "leicht nebenbei konsumierbar" und überforderten nicht mit "zu komplexen Inhalten".
Der Effekt, den Parteien sich damit erwünschen, ist laut Hinz vor allem Mobilisierung. Also, diejenigen Menschen zu erreichen, die ohnehin schon mit der jeweiligen Partei sympathisieren – und sie etwa schon lange vor Wahlkämpfen dazu zu bringen, sich für die Partei zu engagieren. Und Engagement, das kann laut Hinz eben auch einfach bedeuten, ein Lo-Fi-Video der eigenen Partei auf sozialen Medien zu verbreiten.
Eine Wirkung können Lo-Fi-Videos aus Parteikanälen laut Hinz auch auf unentschlossene Wähler haben:
"Potenzielle Wählerinnen und Wähler können über die Videos mit den Parteien in Kontakt kommen. Wenn sie ohnehin eine gewisse Sympathie für die entsprechende Partei haben, kann das motivierend wirken, diese zu wählen."
Eine Besonderheit der Lo-Fi-Politiker-Videos besteht neben ihrer Form auch im Inhalt, der sich zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie bewegt. Diesen Grenzbereich reizen auch unpolitische Lo-Fi-Videos schon aus, sagt Scott Wark, Forscher an der britischen University of Warwick, im Gespräch mit dem "New Statesman".
Mit Bezug auf das Boris-Johnson-Lo-Fi-Video sagt Wark, aus Johnsons Redefetzen werde in dem Lo-Fi-Video "fast ein meditatives Mantra". Die Anime-Optik in dem Video soll Entspannung auslösen.
Die Wirkung der Lo-Fi-Videos hat aber auch ihre Grenzen.
Laut Hinz geht es bei politischen Lo-Fi-Videos weniger darum, Wählerinnen und Wähler anderer Parteien zu überzeugen. Hinz sagt: "Solche Videos können trotz der darüber vermittelten Inhalte keine Meinungen umkehren." Und sie sind Hinz zufolge auch nicht dazu geeignet, unpolitische User zu an Politik interessierten zu machen.
Was ist mit Lo-Fi-Politiker-Videos, die nicht von Parteien kommen?
Viele der populärsten Lo-Fi-Politiker-Videos werden nicht von Accounts politischer Parteien veröffentlicht. Das Merkel-Wave-Video ist dafür ein Beispiel – und das Video "lo fi spahnwave beats to relax/get healthcare systems in very good shape to", das ebenfalls der User robtake hochgeladen hat.
Solche Videos sind nicht immer schmeichelhaft für die Volksvertreter, deren Protagonisten sie sind. In "lofi spahnwave" zum Beispiel kommen deutsche und englische Zitate von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor. Darin betont Spahn etwa, wie gut das deutsche Gesundheitssystem für die Corona-Pandemie gerüstet sei. Das Video enthält aber auch aus dem Kontext gerissene Äußerungen, die eher nicht der Linie der Bundesregierung entsprechen. Das klingt dann zum Beispiel so: "Schenken sie dem Verkäufer / der Verkäuferin im Supermarkt / in der Drogerie vielleicht einfach mal einen bunten breiten Strauß von... Cannabis"
Trotz dieser für die Parteien unerwünschten Aussagen können auch nicht-offizielle Lo-Fi-Videos positive Auswirkungen für die dargestellten Politiker haben. Politikberater Kay Hinz sagt dazu:
"Wer das Video produziert hat, ist zweitrangig. Zwar hat es etwas Offizielles, wenn ein Video direkt von einer Partei veröffentlicht wird, aber der Inhalt wird vom Publikum normalerweise stärker wahrgenommen als der Absender."
Und:
"Sofern das Video eine Partei oder auch eine Person in ein gutes Licht rückt und prägnante Aussagen vermittelt, greifen unabhängig vom Absender die gleichen Mechanismen: öffentliche Aufmerksamkeit, Überraschung, niedrigschwelliges Verbreiten von Inhalten."
Wie kommen die Videos bei den Zuschauern auf YouTube an?
Auf den ersten Blick: vor allem gut. In den Kommentarspalten der bis hierher genannten Lo-Fi-Videos ist viel Lob für die Macher zu lesen, Überraschung darüber, dass es tatsächlich Spaß macht, Politikerreden über Lo-Fi-Beats zuzuhören. Und bei den Videos, die über Parteikanäle ausgespielt werden, auch Anerkennung für den Mut der Parteien, dieses Format zu wagen. Unter das CSU-Lo-Fi-Video schreibt etwa User ContinentalCoin:
"Na gut... dieses Mal habt ihr mich"
Das ist aber nur die ein Teil der Wahrheit. Denn erstens können Kommentare unter YouTube-Videos ja auch gelöscht werden. Und es gibt zumindest Indizien dafür, dass die Betreiber der YouTube-Channels missliebige Kommentare tatsächlich löschen, um die Reaktionen auf die Videos positiver aussehen zu lassen, als sie es wirklich sind.
Unter dem Lo-Fi-Video der CSU-Landesgruppe sind ganz überwiegend positive, anerkennende Sätze zu lesen – aber gleichzeitig hat das Video mehr Dislikes als Likes: 474 versus 276, Stand 23. Juli 2020. Unter dem Boris-Johnson-Video sind fast ausschließlich positive Kommentare – die Like/Dislike-Funktion ist aber komplett deaktiviert. Likes und Dislikes lassen sich nicht moderieren.
Bei dem – nicht von einem Partei-Account veröffentlichten – Merkel-Lo-Fi-Video ist das Verhältnis deutlich positiver: über 61.000 Likes stehen nur gut 800 Dislikes gegenüber.
Was müssen Politiker-Lo-Fi-Videos haben, um gut anzukommen?
Politikberater Kay Hinz nennt ein paar Erfolgsfaktoren, auf die es seiner Einschätzung nach ankommt:
"Ganz wichtig bei den Lo-Fi-Videos ist die personelle Komponente: Videos müssen auf Personen zugeschnitten sein, die bekannt und gut karikierbar sind und womöglich auch polarisieren. Neben der seichten Hintergrundmusik sind politische Zitatfetzen leicht verdaulich, sodass es sich hier um einen klassischen Mix aus Politik und Entertainment, sogenanntes Politainment, handelt."
Zudem gilt bei Lo-Fi-Videos laut Hinz eine oft zitierte Regel der politischen Kommunikation: dass auch negative Publicity am Ende gut sein kann.
Hinz erklärt das so:
"Auch Personen, die die Politik einer Partei ablehnen, sind trotzdem hilfreich für die Verbreitung von Videos. Auch, wenn diese die Videos mit herablassenden und ablehnenden Kommentaren weiterverbreiten, erhöht das die Reichweite, sodass dadurch dann auch wieder Personen erreicht werden, die der Sache positiv gegenüberstehen."
Der Beef um das CSU-Lo-Fi-Video
Welche großartig-grotesken Blüten der Politiker-Lo-Fi-Video-Trend treiben kann, zeigt ein kleiner Beef um das CSU-Video, der sich dieser Tage entsponnen hat.
Als Reaktion auf das CSU-Video hat der bayerische Rapper Monaco F in seiner Kolumne für den öffentlich-rechtlichen Radio-Sender Puls selbst ein Video veröffentlicht, in dem er sich an der Lo-Fi-Melange mit Dobrindt und Söder abarbeitet.
Eine kurze Zusammenfassung für alle, die des Bairischen (ja, die Dialekte aus Bayern schreibt man mit "ai") nicht mächtig sind: Monaco F zweifelt an, dass der CSU-Wave wirklich ein tauglicher Hintergrund-Soundtrack zum Entspannen oder Gamen ist – und vermutet, dass die Partei hier schlechterdings versucht, zumindest "eine Handvoll" junge Wähler abzugreifen.
Die Freien Wähler können solche Publicity momentan gut gebrauchen: In der frisch veröffentlichten Umfrage des Bayerischen Rundfunks kratzt der Koalitionspartner der CSU in Bayern – knapp zwei Jahre nach über 11 Prozent bei der Landtagswahl – mittlerweile an der Fünf-Prozent-Hürde.
Das späte Echo des MeToo-Skandals bei der Linken: Gericht verhängt Urteil
Anmerkung der Redaktion inklusive Richtigstellung: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir behauptet, der hier formulierte Urteilsspruch würde eine Frau betreffen, die sich gegenüber Medien als Betroffene zum MeToo-Skandal bei der Linken geäußert hatte. Das war inhaltlich falsch. Wir bedauern den Fehler und haben die entsprechenden Passagen korrigiert bzw. entfernt. Richtig ist: Verurteilt wurde eine Frau, die sich als Reaktion auf die damaligen Medienberichte auf Social Media zu dem Fall äußerte.