Die Türkei besitzt viele Gesichter: Sie ist Nato-Mitglied und Beitrittskandidatin der EU. Sie unterstützt die ukrainische Seite im Krieg gegen Russland. Seit dem vergangenen Freitag will sie jetzt ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausbauen. Das zeigen die neuen Energie- und Wirtschaftsabkommen zwischen den beiden Ländern.
Doch wie intensiv darf ein Nato-Mitglied wie die Türkei mit einem Land Geschäfte machen, das einen völkerrechtswidrigen Krieg führt? Darf sich die Türkei alles erlauben, oder können EU und Nato dem Vorgehen entgegenwirken? Ein Überblick.
Das Land erstreckt sich über Europa und Vorderasien, dabei tanzt es auf mehren Hochzeiten. Einerseits liefert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Drohnen an die Ukraine, auf der anderen Seite beschließt er neue Wirtschafts- und Energieabkommen mit Russland. Die Türkei sieht sich selber in der Rolle als Vermittlerin und schafft den Spagat zwischen Nato und Russland. Ein Balanceakt, der laut Experten "Business as usual" ist.
Bei einem Treffen am vergangenen Freitag im russischen Badeort Sotschi beschlossen Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin jetzt neue Deals: In Zukunft will Erdoğan zum Beispiel russisches Öl mit Rubel bezahlen. Gleichzeitig sanktionieren noch immer viele europäische Länder Russland für seinen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine.
Erdoğan nähert sich also dem Aggressor Putin an, während er auf der anderen Seite das Opfer des Krieges, die Ukraine, unterstützt. Er habe sich im Zuge des Ukraine-Krieges als Vermittler inszenieren können, der hervorragende Beziehungen zu beiden Regierungen halte, erklärt Civan Akbulut gegenüber watson. Seine Eltern und er sind in den 90er Jahren aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Heute ist er Mitglied im Integrationsrat Essen.
Akbulut zufolge instrumentalisiert der türkische Präsident den Ukraine-Krieg außenpolitisch und schlachtet diesen innenpolitisch bei jeder Gelegenheit aus. "Erdoğan benutzt seine vermeintliche Friedensstifterei als Instrument seiner Machtinteressen und versucht diese zuletzt in Sotschi für sich zu nutzen", meint der 20-jährige Civan.
Die meisten Medien in der Türkei seien gleichgeschaltet, die Pressefreiheit werde stark eingeschränkt und kritische Journalisten und Journalistinnen werden mit absurden Beschuldigungen diskreditiert und verfolgt, erklärt Akbulut: "Die Presse spielt in Erdoğans Regierung eine wichtige Rolle, weil sie als Sprachrohr seiner Propaganda dient." Laut Akbulut hatten die regierungsnahen Medien wie verrückt ausgeschlachtet, dass Erdoğan den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens blockierte und seine Interessen durchsetzen konnte. So laufe das auch mit dem Ukraine-Krieg.
Er erklärt:
Nato-Experte Wolfgang Richter reagiert nicht überrascht über diese weitere Zusammenkunft Putins und Erdoğans. Im Gespräch mit watson sagt der ehemalige Offizier: "Dieses Treffen reiht sich in einer Serie von Abstimmungen zwischen der Türkei und Russland ein, in denen beide Seiten ihre Interessen in Syrien, im Südkaukasus, im Bereich von Waffenlieferungen, und nun auch im Ukrainekonflikt abgleichen." Richter war unter anderem im Nato-Hauptquartier SHAPE tätig. Heute forscht er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
"Das Treffen in Sotschi ist nichts Dramatisches, es ist 'Business as usual'", meint der Türkei-Experte Berk Esen von der SWP gegenüber watson.
Erdoğan verfolge eine nationale – und keine rationale – Politik, meint Richter. Dabei geht es ihm zufolge um türkische Interessen. Diese müssen nicht immer mit den Interessen der EU oder der Nato übereinstimmen. "Wie viele Staaten der G-20-Gruppe reiht sich die Türkei nicht in das Schema eines neuen Ost-West-Konflikts ein, sondern sie verfolgt ganz gezielt ihre nationalen Interessen", erklärt Richter. Erdoğan erhoffe, mit dieser Politik viele Wählerinnen und Wähler für die Präsidentschaftswahl 2023 zu gewinnen.
Erdoğans Hauptzielt sei es, die Wahlen 2023 zu gewinnen, erklärt Esen, der selbst aus der Türkei stammt. "Die türkische Wirtschaft ist in keiner guten Verfassung. Um die Wahlen zu gewinnen, muss Erdoğan Erfolge vorweisen", sagt der Politikwissenschaftler. Auch Akbulut schätzt die wirtschaftliche Lage seines Heimatlandes kritisch ein.
Er sagt:
Sein Vorgehen gegen die Kurden in Syrien und im Irak, aber auch in der Türkei selbst, und Ansprüche im östlichen Mittelmeer sowie in der Ägäis, kollidierten laut Richter manchmal mit den Interessen der EU und Nato.
Akbulut kritisiert, dass nahezu alle Nato-Staaten ihren Kontakt nach Russland vollständig eingestellt haben – außer Erdoğan. "Er bekommt verhältnismäßig kaum bis gar keine Kritik dafür. Ganz nach dem Motto, dass er sich alles erlauben könnte."
Darf die Türkei als Nato-Mitglied zwei- oder überhaupt mehrgleisig fahren – und das ohne Konsequenzen? "Aus geopolitischer Sicht ist die Türkei für die EU und Nato ein wichtiger und unverzichtbarer Partner, daher kann sich Erdoğan die Schaukelpolitik zwischen dem Westen und Russland leisten", erklärt Richter.
Dazu nennt er zwei wichtige Druckmittel Erdoğans:
Richter schätzt daher die Gefahr sehr gering, dass die EU mit Sanktionen versuchen könnte, Einfluss auf Erdoğans Politik zu nehmen. Zumal jetzt noch nicht klar ist, wogegen sie sich im Detail richten sollten.
Nach Richters Ansicht sind Sanktionen der EU gegen die Türkei schwer vorstellbar. Die EU brauche die Türkei wegen ihrer geopolitischen Lage, wegen des Flüchtlingsabkommens und ihrer Rolle als wichtiges Energietransitland. "Zudem bietet sie sich nun als Vermittlerin im Krieg in der Ukraine an. So hat sie den Export des bisher blockierten Getreides aus ukrainischen Häfen vermittelt", meint Richter. Sanktionen wären daher kontraproduktiv. Erdoğan sei sich seiner Sonderlage bewusst. Sein politischer Spielraum habe sich stark vergrößert.
Die Intention Erdoğans, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland zu verstärken, zeigt laut Richter auch, dass die Türkei nicht zu einer neuen Blockpolitik bereit ist, die sich gegen Russland richtet. "Das Ziel des Westens, Russland international zu isolieren, war allerdings schon nach dem G-20-Gipfel gescheitert."
Esen ist der Meinung, dass die türkische Position es für Europa schwierig gestaltet, eine vereinte Front gegen Russland zu bilden. Die Beziehung zu der Türkei gebe Putin und russischen Oligarchen die Chance, einige Sanktionen zu umgehen. Das ist eine komplizierte Situation, worauf der Türkei-Experte keine klaren Lösungen nennen kann.
Wenn Erdoğan 2023 erneut zum türkischen Präsidenten gewählt werden sollte, "dann gewinnt auch die Frage, wie die EU weiterhin mit Erdoğans Politik umgehen will, an Gewicht", meint Esen.