Während vor dem Moskauer Gebäude Polizisten die Straßen bewachten und die Demonstrierenden zurückdrängten, nahm Alexej Nawalny das Urteil im Gerichtssaal still entgegen: Zwei Jahre und acht Monate Haft in einem Straflager stehen dem russischen Oppositionellen bevor.
Was bedeutet dieses Urteil für die Zukunft Nawalnys – und für die demokratische Opposition in Russland?
Der Politiker Nawalny war Mitte Januar bei seiner Rückkehr nach Russland verhaftet worden. Im vergangenen August war er nach Deutschland ausgeflogen und wochenlang in der Berliner Charité-Klinik behandelt worden – aufgrund einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok. Ein Gift, das immer wieder vom russischen Geheimdienst gegen Oppositionelle eingesetzt wurde. Nun wurde Nawalny, dem Opfer des Anschlags, in Moskau der Prozess gemacht.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Nawalny soll sich nicht an Bewährungsauflagen gehalten haben, die für ihn aufgrund einer früheren Verurteilung galten. Im Jahr 2014 war er in Russland der Geldwäsche schuldig gesprochen worden. Schon der damalige Prozess gegen Nawalny wurde später unter anderem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als politisch motiviert verurteilt.
Seit Jahren gilt Nawalny als wichtige Figur in der russischen Opposition und ist damit dem Regime ein Dorn im Auge. Mehrfach organisierte der Politiker Proteste gegen die Putin-Regierung oder etablierte eine Wahl-Strategie, die Oppositionellen den Einzug ins Parlament ermöglichen soll.
Aufgrund seines Engagements wurde Nawalny in der Vergangenheit bereits mehrfach verhaftet und verurteilt. Das jetzige Urteil gegen den Politiker sei aber dennoch eine Zäsur, erklärt die Russland-Expertin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gegenüber watson.
"Es ist das erste Mal, dass er tatsächlich eine lange Haftstrafe antreten muss." Und auch, ob Nawalny nach den zwei Jahren und acht Monaten freikomme, sei fraglich. "Damit verliert die russische Opposition eine wichtige Figur", sagt Pagung.
Wie viele Menschen sich mit Nawalny identifizieren, war in den letzten Tagen auf den Straßen Russlands zu beobachten. Nach der Verhaftung Nawalnys demonstrierten zehntausende Menschen in mehreren russischen Städten. "Die Menschen hier machen ihrer Unzufriedenheit Luft", sagt Sergey Kabatskiy zu watson. Der 24-Jährige nimmt nach eigenen Angaben schon seit Jahren an Kundgebungen der Opposition teil und war auch unter denen, die nach Nawalnys Festsetzung protestierten.
Am Prozesstag sei er nicht vor Ort gewesen, erzählt Kabatskiy. Aber Freunde hätten ihm Eindrücke geschickt. "Einige haben Videos aus einem Polizeiwagen herumgeschickt, wo sie neun Stunden vor Moskau festgehalten wurden. Es gab fast kein Wasser, kein Essen, keine Möglichkeit sich zu bewegen oder auf die Toilette zu gehen." Die Polizei sei außerordentlich brutal gegen die Demonstrierenden vorgegangen. Über 1000 Personen sollen am Tag des Prozesses verhaftet worden sein. "Dabei wollten wir uns nur solidarisch mit Nawalny zeigen."
Auch Expertin Sarah Pagung sieht in dem Vorgehen der Polizei eine neue Stufe der Gewalt. Sie sagt: "Der russische Machtapparat will die Proteste und damit auch die Opposition möglichst klein halten." Nawalnys Verurteilung gehöre ebenfalls zu dieser Strategie: Sie solle der Abschreckung dienen. Und eine der wichtigsten Oppositionsfiguren des Landes möglichst isolieren.
Nawalny soll seine Haft in einem Straflager verbringen. Die Haftbedingungen in den Lagern seien zwar unterschiedlich hart, erklärt Pagung: "Die meisten politischen Häftlinge werden aber in möglichst abgelegenen Lagern untergebracht." So solle einerseits als Schikane der Kontakt zu Familie und Freunden erschwert und andererseits ein weiterer politischer Einfluss verhindert werden. Nawalny wird damit kaum noch aktiv auf die Politik einwirken können.
Dennoch hat er bleibende Spuren in der russischen Politik hinterlassen, meint Russland-Expertin Pagung. Dafür stünden einerseits die Proteste, die in den letzten Tagen stattfanden. Pagung meint: "Nawalny ist zu einer Symbolfigur geworden, die für viele Kritikpunkte der Demonstranten steht: Die Unterdrückung, die Instrumentalisierung der Justiz und die Korruption."
Andererseits habe der Politiker strategisch wichtige Vorarbeit für die Opposition geleistet: "Nawalny hat eine Infrastruktur aus Büros und Kontakten geschaffen, mit Hilfe derer die Opposition nun weiterarbeiten kann", sagt Pagung. Die Frage sei nur, ob es ohne Nawalny als Symbolfigur gelingen werde, genügend Menschen zu mobilisieren, die trotz der Repressionen die Opposition unterstützen wollen. Diese Frage wird sich vor allem angesichts der Parlamentswahlen stellen, die im September in Russland anstehen.
Der junge Oppositionelle Sergey Kabatskiy ist sich sicher, dass das gelingen wird. "Ich denke, die Proteste und der Prozess haben gezeigt, dass Putin an Autorität verliert. Ich glaube nicht, dass er nach den nächsten Wahlen noch an der Macht bleiben wird. Und er wird keinesfalls einen friedlichen Ruhestand haben."