Ein eisernes Gesetz der Spieltheorie besagt: Wer die Regeln bricht, der gewinnt kurzfristig. Mit der Zeit jedoch entwickeln die Mitspieler Gegenstrategien und sorgen dafür, dass die Regelbrecher langfristig zu Verlierern werden. Sowohl bei Donald Trump als auch bei Wladimir Putin scheint sich dieses Gesetz einmal mehr zu bestätigen. Aber der Reihe nach.
Putin ist überzeugt, dass der Westen morsch und dekadent geworden sei. Deshalb sieht er auch keinen Grund, sich an das Völkerrecht und die internationalen Regeln zu halten. Lange hatte er damit Erfolg. Sein Überfall auf einen Teil von Georgien hatte praktisch keine Konsequenzen. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 quittierte der Westen mit wirkungslosen Sanktionen, seine Unterstützung von Terroristen im Donbass mit einem Abkommen, an das sich zu halten der russische Präsident nie für nötig hielt.
In der Ukraine geht Putins Rechnung nicht mehr auf. Zum einen setzen sich Armee und Bevölkerung heldenhaft zur Wehr. Und diesmal macht der Westen mit: Die Nato-Staaten liefern nun auch schwere Waffen in die Ukraine. Deshalb erleiden die russischen Truppen immer wieder empfindliche Niederlagen, zuletzt auf der Krim, wo ein gewaltiges Waffenlager aus bisher ungeklärten Umständen in die Luft flog.
Putin hat jedoch auch den Westen massiv unterschätzt. Die Ukraine erhält nicht nur Waffen, sondern auch politische Unterstützung. Diesmal sind die Sanktionen gegen Russland griffig und schaden der russischen Wirtschaft massiv. Schließlich ist die Nato nicht nur geeint, sie ist auch im Begriff, Schweden und Finnland aufzunehmen und so die Front gegen Russland massiv zu verstärken.
Auch Putins Gas-Waffe scheint stumpf geworden zu sein. Obwohl Russland seine Lieferungen auf ein Minimum reduziert hat und Putin offen damit droht, den Gashahn vollständig zuzudrehen, knickt der Westen nicht ein. Selbst die hierzulande, wo die Wirtschaft unter den russischen Schikanen am meisten leidet, bleibt man standhaft. Man ist in Deutschland in der überwiegenden Mehrheit bereit, im schlimmsten Fall sogar eine Rezession und einen harten Winter auf sich zu nehmen.
Die Stimmen der Pseudointellektuellen, die Zugeständnisse an Putin fordern, sind verstummt oder – wie bei uns Roger Köppel und Magdalena Martullo-Blocher – zu Parias geworden.
Donald Trump ist ein bekennender Putin-Bewunderer. Er liebt es ebenfalls, der internationalen Gemeinschaft und dem liberalen Amerika den Mittelfinger zu zeigen. Auch Trump schien damit unverwundbar zu sein. Unzählige Skandale und zwei Impeachment-Verfahren prallten wirkungslos an ihm ab. Seine Behauptung, er könnte auf offener Straße folgenlos jemanden erschießen, schien Tatsache zu sein.
Die Hausdurchsuchung in Mar-a-Lago – Trumps Residenz in Florida – könnte sich als Wendepunkt erweisen. Zum ersten Mal wird der Ex-Präsident zur Rechenschaft gezogen. Und das kam so:
Nach seinem Auszug aus dem Weißen Haus hat Trump eine Reihe von Dokumenten mitgenommen, die nicht ihm, sondern den National Archives gehören. Als dies bemerkt wurde, rückte Trump zunächst einen Teil dieser Dokumente heraus. Andere – darunter solche, deren Inhalt so geheim ist, dass man nicht einmal berichten darf, wovon sie handeln – behielt er.
Zunächst wurde auf dem Verhandlungsweg versucht, Trump zur Herausgabe auch dieser Dokumente zu bewegen. Vergeblich. Trump ging in klassischer Bully-Manier davon aus, dass Justizminister Merrick Garland ein liberales Weichei sei und sich niemals getrauen würde, diese Dokumente gewaltsam zu beschlagnahmen.
Er hat sich geirrt. Am vergangenen Montag rollte das FBI an und holte sich, was dem Ex-Präsidenten nie gehört hat. Trump hat sich damit möglicherweise nicht nur strafbar gemacht. Er könnte auch Opfer eines Gesetzes werden, das er mittels einer präsidialen Verordnung selbst verschärft hat. Er wollte damit Hillary Clinton wegen der verschwundenen E-Mails hinter Gitter bringen.
Trump reagierte sofort und verfiel vom Bully- in den Opfer-Modus. Noch nie sei ein amerikanischer Präsident auf diese Weise schikaniert worden, klagte er. Das stimmt, eine FBI-Hausdurchsuchung bei einem Ex-Präsidenten hat es in den USA tatsächlich zuvor noch nie gegeben. Doch es hat in den USA auch noch nie einen Präsidenten gegeben, der sich so schamlos über die Gesetze hinweggesetzt hat, wie Trump dies tat.
Trump klagt nicht nur, er will nun politisches Kapital aus dem Vorfall ziehen. In gewisser Weise gelingt ihm dies auch. Die Murdoch-Medien, die nach den verheerenden Hearings zum Sturm auf das Kapitol teilweise auf Distanz gegangen sind, stehen wieder voll hinter ihm. Vor allem Fox News ist vollends zu einem Trump-Propaganda-Organ geworden und verbreitet täglich Verschwörungstheorien wie: Das FBI habe Trump wahrscheinlich Dokumente untergeschoben, um so seine Schuld zu beweisen.
Die Grand Old Party (GOP) hat die Reihen ebenfalls geschlossen. Sämtliche Vertreter der Republikaner geben gebetsmühlenartig ihrer Empörung vor laufenden Kameras und in den sozialen Medien Ausdruck. Mögliche Konkurrenten für die Wahlen 2024, allen voran Ron DeSantis, müssen nun ihre Segel streichen. Trump ist wieder unangefochten die Nummer eins.
Doch wenn Trump behauptet, die Hausdurchsuchung sei ein weiterer Versuch ihn daran zu hindern, 2024 wieder anzutreten, dann verkennt er die Lage vollkommen. Für die Strategen der Demokraten wäre dies im Gegenteil ein Geschenk des Himmels, denn in den Meinungsumfragen verliert Trump regelmäßig gegen Joe Biden, obwohl sich der Präsident bekanntlich in einem Stimmungstief befindet.
Die Demokraten haben daher zur fragwürdigen Taktik gegriffen, in den Vorwahlen zu den Zwischenwahlen Kandidaten der GOP zu unterstützen, die noch extremer sind als Trump. Mit Erfolg. In verschiedenen Bundesstaaten haben sich bei den Republikanern Kandidaten durchgesetzt, die für die alles entscheidenden unabhängigen Wählerinnen und Wähler inakzeptabel sind.
Bisher schien ein Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen unvermeidbar zu sein. Das hat sich geändert: Dank einer Reihe von Erfolgen im Kongress ist "Sleepy" Joe Biden in den letzten Wochen zu einem Gewinner geworden. Das Abtreibungsurteil empört die Frauen selbst in den konservativsten Bundesstaaten, wie eine Volksabstimmung in Kansas kürzlich gezeigt hat. Die Inflation, und vor allem der in den USA so wichtige Benzinpreis, sind im Sinkflug.
Nun treibt Trump in seiner Rolle eines Märtyrers die GOP vor sich her und sorgt dafür, dass die "Verrückten" wie Marjorie Taylor Greene immer stärker die Oberhand gewinnen. Damit mobilisiert er zwar seine Basis, aber er mobilisiert damit auch die Basis der Demokraten und die Unabhängigen. Gehen diese im November zur Urne, dann wird nichts aus dem Sieg der Republikaner.
Im Gegenteil, die Demokraten haben jetzt gute Chancen, ihre Mehrheit im Senat auszubauen und selbst die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zu verteidigen. Sollte es gar – was angesichts der Hass-Rhetorik auf Fox News und im Internet nicht auszuschließen ist –, sogar zu gewaltsamen Aktionen der Rechtsextremen kommen, dann werden sich die Unabhängigen vollends von der GOP abwenden.
Antonio Gramsci, ein italienischer Intellektueller, hat in den Dreißigerjahren erklärt, die Zeiten seien so unsicher, weil das Alte noch nicht untergegangen und das Neue noch nicht entstanden sei. Dies trifft in mancherlei Hinsicht auch auf die Gegenwart zu. Wir leben in unsicheren Zeiten. Demokratie und Rechtsstaat sind bedroht wie schon lange nicht mehr.
Doch es gibt auch die Hoffnung, dass sich die "besseren Engel", von denen einst Abraham Lincoln in der schwierigen Situation des amerikanischen Bürgerkriegs gesprochen hat, erneut durchsetzen werden, und dass die beiden Regelbrecher Putin und Trump schlussendlich zur Rechenschaft gezogen werden.