Für die Einführung des Acht-Stunden-Tages brauchte es 1919 nicht mehr und nicht weniger als die Angst der Industriellen vor einer Revolution. Vor Bolschewismus und vor Anarchie. Der Erste Weltkrieg war vorbei, die Stimmung aufgeheizt. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert und seine Übergangsregierung führten per Verordnung den Acht-Stunden-Tag zum 1. Januar 1919 ein – bei vollem Lohnausgleich. Die pragmatischen Gewerkschaftler hatten sich durchgesetzt.
Diese Verbesserung für die Lebensqualität der Lohnarbeiter und Angestellten ist über 100 Jahre her. Trotzdem wird auch heute noch gerungen: Wie sollte es im Jahr 2023 aussehen, das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit?
Die Antwort, die manche Länder darauf haben: Die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. In Belgien zum Beispiel wird das Konzept der flexiblen Arbeitszeit bald Realität. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können dann ihre Wochenarbeitsstunden auf vier Tage aufteilen. Dafür würden sie an diesen Tagen zwar länger arbeiten, hätten aber drei Tage pro Woche frei.
Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Überstunden auch ohne das verlängerte Wochenende Realität: Im Jahr 2021 machten die Arbeitnehmenden in Deutschland laut Statista rund 818 Millionen bezahlte und circa 893 Millionen unbezahlte Überstunden.
Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag von RTL und ntv durchführte, würden sich 71 Prozent der Befragten das belgische Modell auch für Deutschland wünschen. 59 Prozent der Befragten würden sich für eine Vier-Tage-Woche entscheiden, wenn sie die Wahl hätten.
In Großbritannien wurde der Traum im vergangenen halben Jahr für mehrere Tausend Arbeitnehmende in Form eines Pilotprojektes wahr. An nur vier Tagen pro Woche wurde gearbeitet, drei waren frei. Nach Ende des Versuchs zieht der Großteil der beteiligten Firmen ein überaus positives Fazit: Mehr als vier von fünf wollen an dem Konzept festhalten.
56 von 61 Arbeitgeber teilten nach Ende der Testphase mit, die Vier-Tage-Woche beibehalten zu wollen – 18 bestätigten das Konzept sogar bereits als dauerhaft eingeführt.
Doch wie sinnvoll ist eine Umschichtung von Arbeit? Und ist ein solches Konzept also auch in Deutschland denkbar?
Aus Sicht von Dieter Zapf könnte eine Reduktion der Arbeitszeit positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Menschen haben. Zapf ist Professor für Arbeitspsychologie an der Universität Frankfurt (Main). Vor allem, wenn die Wochenarbeitszeit die 40 Stunden überschreite, könne das massive gesundheitliche Auswirkungen haben. Er räumte allerdings bereits in der Vergangenheit ein, dass diese Auswirkungen auch mit der Art der Arbeit zu tun hätten.
Mit in die Rechnung einbezogen werden müsse, dass auch der Weg zur Arbeit oftmals bis zu einer Stunde dauere. "Es geht also nicht nur um die täglichen acht Stunden, sondern einschließlich Wegezeit oft um zehn bis zwölf Stunden", sagt der Arbeitspsychologe.
Was aus seiner Sicht für die Vier-Tage-Woche spreche, sei die längere Erholungszeit. Der Jahresurlaub spiele nämlich nur eine geringe Rolle für die Erholung von Arbeitnehmenden.
Zapf sagt:
Das Branchenportal "Ingenieur.de" berichtet von einer isländischen Studie, die vor allem zu zwei Haupterkenntnissen im Zusammenhang mit der Vier-Tage-Woche kam:
Wie das Portal weiter berichtet, hätten im Anschluss an diese Studie diverse isländische Gewerkschaften neu verhandelt. Das Ergebnis: Insgesamt haben nun etwa 86 Prozent der gesamten isländischen arbeitenden Bevölkerung das Recht auf verkürzte Arbeitszeiten und weniger Arbeitsstunden pro Woche.
"Die Einführung einer gesetzlichen Vier-Tage-Woche ist in Deutschland nicht geplant", hieß es auf eine frühere watson-Nachfrage aus dem Ministerium für Arbeit und Soziales. Das Grundgesetz überlasse die Gestaltung der Arbeitszeit den Vertragsparteien – also Arbeitgebern und Arbeitnehmern. "Diese sind unter Beachtung der Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes frei in ihren diesbezüglichen Entscheidungen", hieß es dort weiter.
Auch außerhalb des Ministeriums sind Politiker:innen nicht überzeugt von einem starren Vier-Tage-Woche-System. Stephan Stracke von der CSU sieht allerdings dringenden Reformbedarf für den rechtlichen Rahmen von Arbeitszeitvorgaben. Stracke ist der Vorsitzende der AG Arbeit und Soziales der Unions-Fraktion.
Gegenüber watson erklärte er in einem früheren Gespräch:
Er sprach sich für eine "Flexi-Woche" aus. Die Arbeitszeiten sollten sich in Zukunft an den Bedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer orientieren, meinte Stracke. Statt eines starren Acht-Stunden-Tages müsse es aus Sicht des Christsozialen eine wöchentliche Höchstarbeitszeit geben. Stracke sagte damals: "Die Arbeitszeiten müssen zu den Menschen passen und nicht umgekehrt."
Ähnlich sah es der Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales der Grünen-Bundestagsfraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn. Gegenüber watson erklärte er in einem früheren Gespräch:
Der Sozialdemokrat Martin Rosemann sieht in der Vier-Tage-Woche eine Chance, um Strukturwandel zu bewältigen. Allerdings nur in bestimmten Branchen und zeitlich begrenzt. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Soziales verweist auf den Autobauer VW, der in den 90er Jahren auf das Konzept zurückgegriffen hatte, um Arbeitsplätze zu retten. Damals wurde die Wochenarbeitszeit der Beschäftigten um zwanzig Prozent, der Lohn um zehn Prozent gesenkt. So konnten trotz Krise rund 30.000 Arbeitsplätze gerettet werden. Auch während der Coronapandemie und jetzt, auf dem Weg zur E-Mobilität, setzen Autobauer wie Daimler auf eine Arbeitszeitverkürzung.
Für den gesamtdeutschen Arbeitsmarkt sieht Rosemann in der Vier-Tage-Woche aber wenig Nutzen. Er sagte in einem früheren Gespräch gegenüber watson:
Es sieht so aus, als wäre der Traum der Vier-Tage-Woche in Deutschland im Jahr 2023 immer noch weit entfernt. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass sich flexiblere Arbeitszeitmodelle durchsetzen könnten. So könnten sich die Arbeitnehmenden ihre Zeit besser einteilen und an ihre jeweilige Lebenssituation anpassen.
(Mit Material von dpa)