In den Nord-Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein hat das neue Schuljahr am Montag bereits begonnen, Hamburg folgt am Donnerstag. Nach eineinhalb Jahren Heim- und Wechselunterricht startet das neue Schuljahr dort in Präsenz – mit Tests und Masken. Pünktlich zum Schulstart haben die Gesundheitsminister der Länder zudem am Montag beschlossen, das nun auch in Impfzentren ein Impfangebot für 12- bis 17-Jährige gemacht werden soll. Dabei sei entsprechende ärztliche Aufklärung erforderlich.
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA hatte im Mai den Covid-19-Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen, vor wenigen Tagen folgte auch die Freigabe für Moderna.
Für Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) die Impfung trotz deutlichen politischen Drucks bisher jedoch nur Kindern und Jugendlichen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes oder Adipositas, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-Verlauf haben. Der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, hat dies am Montag im Deutschlandfunk als "Außenseiterposition" betitelt.
Zudem sollten Kinder und Jugendliche auch durch Kinder- und Hausärzte sowie im Rahmen von Impfungen für Angehörige von Beschäftigten in Firmen geimpft werden können. Für Jugendliche und junge Erwachsene in Universitäten und Berufsschulen sind ebenfalls Impf-Angebote geplant.
In einigen Ländern sind bereits Impfaktionen etwa an Schulen geplant. In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel sollen in der zweiten Schulwoche Schülerinnen und Schüler ab 16 Jahren in der Schule geimpft werden. Zumindest dann, wenn sie das wollen.
Um die Minderjährigen und ihre Familien über die verfügbaren Impfstoffe, mögliche Nebenwirkungen und Risiken aufzuklären, hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Informationsbroschüre zusammengestellt. Darin ist auch eine Checkliste zu finden, die aus Sicht der Autoren bei der Entscheidung helfen soll.
Mit dem ausgebauten Impfangebot für Kinder und Jugendliche widersprechen die Politikerinnen und Politiker der Empfehlung der Stiko. Watson hat mit Medizinrechtsexperten darüber gesprochen, was der politische Rahmen für die impfenden Ärzte bedeutet – und bei Kinder- und Jugendärzten nachgefragt, wie sie zur Impfung von Minderjährigen stehen.
"Soweit der Staat die Schutzimpfung empfiehlt – oder gar anordnet –, haftet er nach Maßgabe des Infektionsschutzgesetzes für einen eventuellen Impfschaden", erklärt Christian Pestalozza von der Freien Universität Berlin. Der emeritierte Professor ist Mitglied der Ethik-Kommissionen des Landes und der Ärztekammer Berlin. Gleichzeitig treffe den Staat keine Haftung nach Infektionsschutzgesetz, wenn eine solche Empfehlung nicht ausgesprochen werde.
Sein Kollege Andreas Pitz, Professor für Medizin- und Sozialrecht an der Hochschule Mannheim, ist der Ansicht, dass der Staat für einen Impfschaden speziell bei der Covid-Impfung in jedem Fall hafte – unabhängig von dieser Entscheidung des Impfgipfels. Er beruft sich mit seiner Annahme auf eine Gesetzesänderung im Infektionsschutzgesetz.
Das Bundesministerium für Gesundheit erklärt auf seiner Internetseite:
Allgemein gelte: "Wenn die zuständigen Europäischen Behörden einen Impfstoff auch zur Anwendung an Minderjährigen ab 12 Jahren zugelassen haben, dürfen Ärztinnen und Ärzte ihn grundsätzlich einsetzen", sagt Pestalozza. Voraussetzung sei eine umfassende Beratung.
Dass die Stiko eine Impfung nur für bestimmte Angehörige dieser Altersgruppe empfehle, sorge aber dafür, dass sich die Aufklärungslast der Ärzte vergrößere. Gegenüber watson fasst Pestalozza zusammen:
Bezüglich der Impfung Jugendlicher sagt Pitz: "Die Frage, ab wann ein Minderjähriger selbst darüber entscheiden darf, ob er sich gegen SARS-CoV2 impfen lässt, hängt von der individuellen Einsichtsfähigkeit des Minderjährigen ab."
Christian Kröner ist Hausarzt in Bayern. Der 39-Jährige erhielt Morddrohungen von Impfgegnern und lebte teilweise unter Polizeischutz, weil er auch Kinder ab 12 Jahren gegen Corona impfte. Inzwischen bietet er keine Erstimpfungen gegen Covid-19 mehr an, aber nicht aus Angst vor den Anfeindungen. Gegenüber watson erklärt er:
Eltern, deren Kinder über 12 Jahre alt sind, empfehle er eine Impfung aber in jedem Fall. Mittlerweile gebe es weltweit viel Erfahrung bei der Wirkung auf 12- bis 17-Jährige. "Über die Langzeitfolgen des Virus wissen wir dagegen noch wenig und was wir wissen, gerade auch in Bezug auf Long Covid, finde ich eher beunruhigend", erklärt Kröner seine Einstellung.
Der Hausarzt geht davon aus, dass auch die Stiko mittelfristig eine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche geben wird. Im Allgemeinen ist er der Meinung, dass die Impfung niedrigschwelliger angeboten werden muss, um eine Impfmüdigkeit zu überwinden. "Natürlich würde da zum Schulstart auch eine freiwillige Impfaktion in den Schulen helfen", fügt er an.
Der Bremer Kinder- und Jugendarzt Marco Heuerding ist anderer Ansicht: "Ich bin Impfbefürworter, aber Familien in meiner Praxis würde ich momentan noch raten, die generelle Empfehlung der Stiko abzuwarten." Gegenüber watson begründet er seine Meinung:
Die Einmischung der Politik nennt der Mediziner vermessen. "Sich über dieses unabhängige Gremium hinwegzusetzen, nur um die Inzidenzzahlen zu senken, finde ich sehr unglücklich", sagt er. Aus seiner Sicht werde mit solchen Entscheidungen weniger die Impfbereitschaft erhöht als der Vertrauensverlust vergrößert.
"Tatsächlich sieht es so aus, als ob Delta die Bevölkerung komplett durchlaufen wird. Das heißt für die Kinder: Entweder sie machen eine Wildvirus-Infektion durch oder eine Impfung. Welche dieser beiden Alternativen für diese Altersgruppe die sicherere ist, sollte aber die Stiko in aller Ruhe abwägen dürfen", fasst Heuerding zusammen. Politischen Druck auszuüben sei an dieser Stelle unangemessen, da sich Politiker nicht auf Kosten der Kinder über eine wissenschaftliche Empfehlung hinwegsetzen sollten.
(Mit Material von dpa)