Die Dame mit den grauen Haaren grinst ihre Ziele schon von Weitem an. Es ist ein sonniger Morgen am Münchner Gärtnerplatz im hippen Glockenbachviertel. Die Sommerferien stehen vor der Tür, Schulgruppen trotten auf ihrem Wandertag durch die Straßen. Die Dame wartet neben dem beliebten Café Trachtenvogl auf ihre Beute, wo gerade einige Touristen eifrig ihr Weißwurschtfrühstück bearbeiten. Sobald ein Passant näherkommt, streckt sie ihm einen Flyer in den Weg.
Dann spricht sie von Missständen in der Psychatrie, von falschen Medikamenten für Kinder und von schlimmen Fehlern im Gesundheitssystem. Ihre Organisation mache in einer neuen internationalen Ausstellung auf diese Probleme aufmerksam, sagt sie und verspricht: 14 Dokumentationsfilme würden Entlarvendes präsentieren. Selbstverständlich kostenlos. Dazu gibt es dann ihren professionell designten Flyer.
Wer ihr eine Weile bei der Arbeit zuschaut, beobachtet immer wieder, wie sie Leute zum Stehenbleiben bewegt. Das klappt vor allem, wenn die Dame vom schädlichen Einsatz von Kinder-Medikamenten in der Psychotherapie erzählt. Ein Lehrer etwa schaut den Flyer lange an und steckt ihn dann ein, während er seine Schulklasse durch die enge Straße lotst.
Auf dem Stück Papier "informiert" eine "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte" (KVPM) über die vermeintlichen Skandale. Vielleicht wird der Lehrer den Flyer später zerreißen, vielleicht gibt er ihn aber auch weiter, oder er landet sogar in einer Schule. Denn auf den ersten Blick wirkt er so glaubhaft wie die alte Dame oder der Name KVPM selbst.
Hinter all dem steckt allerdings kein gemeinnütziger Verein, der helfen möchte. Dahinter steckt eine gefährliche Sekte, die von Geheimdiensten weltweit beobachtet wird: die Scientology-Organisation (SO).
Die Ausstellung mit angeblichen Experten zum Thema "Psychiatrie: Tod statt Hilfe" und die KVPM sind Teil einer Strategie von Scientology. Die Sekte versucht, mit Tarnorganisationen und Projekten ihren Einfluss auf die Bevölkerung zu vergrößern.
Der deutscher Ableger von KVPM hat seinen Sitz in München. Seit 1969 (Verfassungsschutz-Angabe) zieht er mit der angeblichen Sorge um Kinder neue Mitglieder zu Scientology. Lange hörte man allerdings wenig von KVPM, bis die öffentlichen Auftritte vor einigen Jahren plötzlich wieder zunahmen.
Wenn sie Erfolg hat, geht sie sofort mit auf die andere Straßenseite. Dort hat normalerweise eine bekannte Designer-Agentur ihr Geschäft. Deren Name prangt sogar noch dick über der Tür. Innendrin thront jetzt aber das Logo der SO-Tarnorganisation und auf rund 100 Quadratmetern hat sie ihre Anti-Psychatrie-Agitation aufgehängt.
Mitten im wohl bekanntesten Münchner Stadtviertel betreibt die Sekte somit gerade einen eigenen Pop-Up-Laden. Darunter versteht man Ausstellungen und Geschäfte, die nur für kurze Zeit ihre Produkte anbieten, um dann wieder zu verschwinden.
Wir haben bei der Agentur angerufen, die hinter dem Design-Laden "Mood" steht. Eine Mitarbeiter sagte uns, nichts vom Einzug der Scientology zu wissen. Die Agentur hat ihren Sitz dabei nur eine Straße weiter. Man versprach uns einen Rückruf, den es aber bisher noch nicht gegeben hat.
Die Ausstellung der KVPM ploppte in den Räumen des "Mood" vor einigen Tagen plötzlich auf, wie verschiedene Ladenbesitzer erzählen. Seitdem versuchen ständig wechselnde Mitarbeiter, Menschen in die Ausstellung zu locken.
Sebastian Mayer vom Café Trachtenvogl beschreibt die Sekten-Werber dabei als äußerst penetrant. "Sie drängen Passanten zum Besuch der Ausstellung und zwingen ihnen Flyer auf", sagt er.
"Ein Ziel der Tarnorganisationen lautet, an die Adressen von Menschen für Scientology selbst heranzukommen," erklärt Matthias Pöhlmann. Er ist Sektenbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und hat der neuen Ausstellung bereits einen Besuch abgestattet. Dabei hätten ihm Mitarbeiter sofort eine Umfrage in die Hand gedrückt, inklusive der Frage nach seiner Adresse und Kontaktdaten. Im Kleingedruckten habe daraufgestanden, dass die Daten weitergegeben und verarbeitet würden. Die Adresse der KVPM-Umfrage spricht eine klare Sprache. Es ist dieselbe wie die von Scientology München.
KVPM sei dabei nicht die einzige Tarnorganisation, sagt Pöhlmann.
Andere tragen Namen wie "Nein zu Drogen" oder "Jugend für Menschenrechte". Pöhlmann sagt: "In München hat die Scientology-Tarnorganisation 'Der Weg zum Glücklichsein' angebliches Informationsmaterial direkt an Schulen verschickt. Die gleichnamige Broschüre hatte extra einen für München designten Umschlag, um ansprechender zu wirken."
Ein Pop-Up-Store mitten in einem Szeneviertel wie dem Glockenbach passe ebenfalls zur Strategie.
"Über den Umweg einer massiven Gesellschaftskritik kann die Scientology in Gegenden auftreten, in denen sie sonst sofort isoliert würde“, erklärt Pöhlmann. Dazu komme, dass das ideologisch produzierte Feindbild Psychiatrie auch inhaltlich zu dieser umstrittenen Organisation passe.
In Wirklichkeit gehe es bei der Scientology-Organisation allerdings nur um eines: Die "Unterordnung des Einzelnen unter ein totalitäres System."
Auch der bayerische Verfassungsschutz beobachtet die Münchner Scientology-Projekte seit Jahren. Gerade in München sei die Organisation ein hartnäckiges Problem, aber auch der Verfassungsschutz in Hamburg und Baden-Württemberg berichtet aktuell von wesentlich agressiver auftretenden SO-Tarnorganisationen.
"Diese Läden tauchen ziemlich pünktlich einmal im Jahr auf", sagt ein Verfassungschützer zu watson. Er vermutet, dass die Sekte die Räume im Glockenbachviertel dazu eigens angemietet hat, um genauso schnell wieder zu verschwinden, bevor eine kritische Öffentlichkeit auf ihr neues Zentrum Aufmerksam wird.
Die Anhänger der SO hätten lange Jahre Zeit gehabt, um Wege der Täuschung durch Tarnorganisationen und Indoktrinierung zu entwickeln. "Einfache Bürger können das oft nicht mehr unmittelbar durchschauen", so der Verfassungsschützer. So kann auch eine harmlos wirkende Dame in einem Szeneviertel auf einmal eine Gefahr bedeuten.