Russland: Bericht enthüllt Exekutionen und Folterungen eigener Soldaten
Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Offiziell sollen russische gegen ukrainische Soldaten Krieg führen. Inoffiziell kämpfen viele von ihnen offenbar nicht nur gegen die feindlichen Truppen, sondern auch ums Überleben in den eigenen Reihen.
Nach neuen Recherchen soll es in Putins Armee ein System geben, in dem Soldaten gefoltert, erschossen oder bewusst in aussichtslose Angriffe geschickt werden. Das interne Wort dafür ist so nüchtern wie brutal: "null machen" – im militärischen Slang bedeutet es, jemanden auszulöschen. Hauptgründe sind Befehlsverweigerung und Gier, aber auch schiere Willkür.
Die Untersuchung des unabhängigen russischen Recherchemediums "Verstka", ausgewertet von "Meduza", zeichnet das System nach, das weit über einzelne Exzesse hinausgeht. Mindestens 101 Soldaten werden verdächtigt, an solchen Tötungen beteiligt gewesen zu sein. Die wahre Zahl soll wohl noch höher liegen.
"Nullifizieren": Was hinter den Soldaten-Tötungen steckt
Für die Datenbank, die "Verstka" aufgebaut hat, wurden Namen, Einheiten und Dienstgrade gesammelt. 79 mutmaßliche Täter-Personen gelten dort als sicher "identifiziert", also bestätigt durch mindestens zwei Quellen. Bei den restlichen gibt es derzeit Hinweise, jedoch noch ohne vollständigen Beleg. Die Redaktion schreibt, sie werde die Liste "kontinuierlich erweitern".
Allein im ersten Halbjahr 2025 gingen dieser Quelle zufolge 29.000 Beschwerden über Verstöße innerhalb des Militärs ein. Seit Kriegsbeginn gibt es mehr als 12.000 Berichte über interne Tötungen. Trotzdem bleibt das System nahezu unsichtbar.
Fast alle Verdächtigen sind Offiziere. Kaum jemand wurde angeklagt. Eine Quelle in der russischen Militärstaatsanwaltschaft sagt dazu gegenüber dem Medium: "Ermittlungen gegen Offiziere in der Ukraine könnten die Operationen negativ beeinflussen."
Die Geschichten hinter den Zahlen zeigen eine Armee, in der Gewalt nicht nur Mittel zum Kriegsziel ist, sondern auch Werkzeug zur Kontrolle nach innen. Dabei gibt es mehrere Formen der Gewalt.
Russlands Kontrolle: Keller und Gruben als Machtinstrument
In Einheiten entlang der Frontlinie sollen dem Bericht zufolge improvisierte Haftgruben existieren. Soldaten berichten davon, dass Kameraden darin tagelang ohne Wasser liegen mussten, dort waren sie regelmäßigen Schlägen ausgesetzt. Ein Soldat namens Yuri aus der 114. Brigade sagt: "Manche starben dort. Wer überlebte, musste manchmal den anderen töten."
Ein Video aus ukrainischen Kanälen, aufgenommen im Mai 2025, zeigt zwei halbnackte Männer in einer Erdgrube, angefeuert von einer Stimme außerhalb des Bildes: "'Kama' hat gesagt: Wer den anderen zu Tode schlägt, kommt raus."
"Kama" ist laut "Verstka" der Rufname von Aynur Sharifullin, Vater von drei Kindern und Offizier der 114. Brigade. Er wird nicht nur mit Folter, sondern auch mit Erpressung in Verbindung gebracht. Fotos aus einer Chatgruppe zeigen seine Frontunterkunft mit Tapete, Bett und Fußbodenheizung – ein Kontrast zu den Löchern im Boden, in denen Soldaten angeblich sterben.
Russische Soldaten in Bedrängnis: Morde wegen Geld
In anderen Fällen geht es nicht um Gehorsam, sondern um Profit. Der Soldat Andrey Bykov, der nach einer Verletzung eine Auszahlung erhielt, weigerte sich laut seiner Mutter, den geforderten Anteil an seine Kommandanten abzugeben. Stattdessen kaufte er ein Auto. Seine Mutter berichtet von den Folgen für ihren Sohn: "Sie sagten mir, sie hätten ihn so verprügelt, dass kein Fleck heile geblieben ist. Er liegt im Wald. Ich kann ihn nicht einmal beerdigen."
Beteiligt gewesen sein sollen zwei Offiziere mit den Rufnamen "Dudka" und "Kemer". "Kemer", bürgerlich Dmitry Kemerov, kam demnach direkt aus dem Gefängnis an die Front. Laut Zeugen habe er Pin-Codes gefallener Soldaten verlangt und Geld für die Vermeidung gefährlicher Einsätze kassiert.
Fleischangriff oder Erschießung: Entscheidung zwischen Tod und Tod
Wer sich weigert, in sogenannte "Fleischangriffe" zu gehen, riskiert dem Bericht zufolge die eigene Hinrichtung. Es ist eine Wahl zwischen Tod und Tod: Denn bei diesen Angriffen werden zahlreiche russische Soldaten ins Niemandsland geschickt, wo sie nach Angaben von Veteranen häufig direkt von Drohnen getroffen werden. Ein Soldat namens Alexey sagt dazu zu "Meduza": "Du kommst da nicht lebend an. Deshalb verweigern Leute."
In seiner Brigade seien Menschen "aus nächster Nähe erschossen" worden, wenn sie den Befehl verweigerten. Andere Einheiten sollen Drohnen genutzt haben, um fliehende Soldaten zu töten. In einem Fall, so "Verstka", wurden Soldaten mit entsicherten Granaten in der Weste in den Kampf geschickt: "Wenn du fällst, explodiert es. Ich habe das einmal gesehen."
Nicht alle Details können unabhängig verifiziert werden. Doch mehrere Aussagen, Videos und Angehörigen-Chats zeichnen ein konsistentes Bild: Das Töten der eigenen Leute ist offenbar ein Instrument militärischer Kontrolle.
Russland: Die Spur der Soldaten-Leichen führt selten nach Hause
Viele der Opfer tauchen in offiziellen Akten als "vermisst" oder "Deserteure" auf. Für Familien bedeutet das, dass es keine Entschädigung gibt, ebenso wenig wie Gewissheit.
Ein Soldat namens Vladislav Berlyakov beschreibt, was mit dem Leichnam seines Kameraden geschah, der "Odessa" genannt wurde: "Sie setzten ihm eine alte Weste auf, legten zwei Granaten drunter und sprengten ihn. Danach ließen sie den Körper verrotten." So sollten Spuren von Schlägen verschwinden, bevor die Leiche offiziell als "gefallen" gelistet wurde.
Nur wenige Tage vor den Verstka-Enthüllungen hatte bereits das Medium "Vot Tak" eine Liste von 50 Offizieren veröffentlicht, denen ähnliche Taten vorgeworfen werden. Viele Namen überschneiden sich.


