Politisches Beben in Thüringen: Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten ist überraschend der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Regierungschef gewählt worden. Er setzte sich bei der Abstimmung am Mittwoch im Landtag in Erfurt im entscheidenden dritten Wahlgang gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Die Linke) durch.
Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Es gab eine Enthaltung. Kemmerich muss in der geheimen Wahl den Großteil der Stimmen von CDU und AfD erhalten haben, schließlich hat die FDP allein nur fünf Sitze im Landtag. Der von der AfD aufgestellte parteilose Kandidat Christoph Kindervater erhielt im dritten Wahlgang keine Stimme.
Wie geht es nun weiter in Thüringen? Und was bedeutet der Paukenschlag für ganz Deutschland? Watson hat direkt nach der überraschenden Wahl mit Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der TU Dresden gesprochen.
watson: Sensation in Thüringen: Der FDP-Kandidat Kemmerich ist Ministerpräsident, Bodo Ramelow ist im dritten Wahlgang durchgefallen. Was bedeutet das jetzt?
Hans Vorländer: Dieses Ergebnis kommt völlig überraschend und unerwartet. CDU und FDP haben lange Zeit gesagt, dass sie keinen Kandidaten wählen lassen, der von der AfD unterstützt wird. Jetzt ist es doch so gekommen.
Die FDP ist die kleinste Partei im Landtag. Wie soll das funktionieren? Sie hat nur zusammen mit CDU und AfD eine Mehrheit, eine solche Koalition wird es ja aber vermutlich nicht geben.
Es ist vollkommen offen, inwiefern hier eine Regierung zustande kommen soll, die eine parlamentarische Mehrheit hat. Das Parlament hat sich tatsächlich als der Souverän herausgestellt. Das ist eine ganz neue Situation, dass sich aus dem Parlament heraus eine überraschende Wahl eines Kandidaten ergibt. So etwas hat es in Deutschland nur ganz, ganz selten gegeben.
Aber kann es unter diesen Umständen überhaupt eine funktionsfähige Regierung geben?
Egal, wen Kemmerich nun in die Regierung beruft – das steht jederzeit wieder zur Disposition. Die Regierung, die es geben wird, ist mehr als wacklig. Sie kann jederzeit gestürzt werden oder durch einen mehrheitsfähigen Kandidaten ersetzt werden.
Welche Möglichkeiten hat Kemmerich denn überhaupt? Denkbar wäre ja nur, dass FDP und CDU die Minister stellen. Eine offizielle Zusammenarbeit mit der AfD wird es ja kaum geben.
Kemmerich kann die Gunst der Stunde nutzen und versuchen, ein überparteiliches Kabinett aufzustellen. Das kann zum Beispiel eine Regierung aus Experten sein. Oder eine, die aus fast allen Parteien besteht – dann wäre die Frage, ob die AfD mit einbezogen wird. Alles ist unsicher, und alles ist möglich.
Die AfD hatte ja auch einen Kandidaten aufgestellt, der aber im dritten Wahlgang keine einzige Stimme bekommen hat. Hat die CDU sich mit der Wahl Kemmerichs verzockt, weil sie womöglich dachte, dass die AfD schon ihren Kandidaten wählen würde?
Nach diesem Ausgang ist vieles denkbar, aber dass die CDU sich derart naiv verhalten hat, ist schwer anzunehmen. Man muss davon ausgehen, dass es Hintergrundabsprachen gegeben hat. Ansonsten ist ein solches Ergebnis schwer vorstellbar. Ich glaube nicht, dass das eine rein einseitige und überraschende Aktion der AfD war, jetzt ihren Kandidaten fallenzulassen und stattdessen Kemmerich zu unterstützten.
Rot-Rot-Grün muss seinen Koalitionsvertrag jetzt also in jedem Fall wegwerfen?
Ja. Sie stellen nicht den Ministerpräsidenten und bilden nicht das Kabinett.
Was löst das bundespolitisch aus?
Dieses Ergebnis wird zu großen Erschütterungen innerhalb der CDU führen. Das ist nicht anders vorstellbar.
Weil die CDU zusammen mit der AfD jemanden zum Ministerpräsidenten gewählt hat?
Ja. Die große Frage wird sein, ob es im Hintergrund Absprachen gegeben hat oder nicht. Es wird auf jeden Fall zu Verwerfungen in der CDU kommen. Auch wegen des äußeren Erscheinungsbildes mangelnder Glaubwürdigkeit, auf das die CDU gerade im Bund viel Wert legt.
Ist damit das Tabu der Zusammenarbeit mit der AfD gebrochen?
Fest steht nur: Wenn das Beispiel Thüringen jetzt Schule macht, erschüttert das auch andere Regierungen in den Bundesländern. Die Kenia-Koalition in Sachsen halte ich für stabil, aber in Sachsen-Anhalt wäre das ungewiss. Dort wäre es denkbar, dass einige aus dem konservativen CDU-Flügel nun nicht mehr nur an eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD denken, sondern auch versuchen, diese zu realisieren.