Nicole Schulze, Wohnwagenprostituierte aus Trier.Bild: Timo Stein
Deutschland
Franz Betz sammelt Schamhaar. Auch bei über 30 Grad an einem Julinachmittag. Er steht vor einem mit allerhand Kunsthaar beschmückten Wohnwagen am Berliner Hauptbahnhof und lädt Passanten ein, ihr Unterleibshaar zu spenden. "Zumindest die, die noch welches haben", sagt er und lacht.
Potenziellen Spendern drückt er dann eine schwarze Nagelschere und ein kleines Tütchen in die Hand und bittet zur Vollstreckung auf das abseitige Wohnwagenklo. Franz Betz ist Künstler und nennt das Schwarmkunst. Was er mit dem gesammelten Unterleibshaar macht, weiß er noch nicht so genau. "Vielleicht eine Perücke."
Hier geht es zur Schamhaarspende.Bild: Timo Stein
Es geht um das Tabu-Thema Prostitution
Neben Betz Wohnwagen stehen vier weitere und ein VW-Bus in einem Halbkreis zwischen Hauptbahnhof und Regierungsviertel. Sogenannte "Lovemobile" der Aktion "Strich/ Code/ Move".
"Über die Kunst kommen wir besser ins Gespräch", sagt Stephanie Klee. Sie ist eine der Initiatorinnen und Vorsitzende des Berufsverbands sexuelle Dienstleistungen, der sich als Interessensvertretung von Bordellbetreibern und selbständigen Prostituierten versteht.
Das eigentliche Ziel von Klee und Co. sei es, über die Arbeit von Prostituierten aufzuklären, Vorurteile abzubauen und Klischees zu hinterfragen. Auch Vereine wie die Beratungsstelle für Prostituierte Hydra e. V. oder die Deutsche Aidshilfe unterstützen die Wohnwagen-Aktion. Bis zum Wochenende stehen sie noch in Berlin. Dann ziehen sie weiter. In einem Lovemobile wird die Geschichte der Sexarbeit aufbereitet, in einem anderen finden Performances statt. Aktivisten in Kondomkostümen verteilen Präservative, über Tantra, Bondage oder Sexualität mit Behinderung wird referiert. Und auch Prostituierte erzählen von ihrem Alltag.
Die Kernbotschaft der Aktivisten aber ist politisch: Es geht um den Protest gegen das Prostituiertenschutzgesetz. Denn das sei eine Lüge, sagt Klee. Es schütze die Prostituierten nicht, das Gegenteil sei der Fall.
Stephanie Klee ist der Kopf hinter der Wohnwagen-Aktion.Bild: Timo Stein
Das Prostituiertenschutzgesetz wurde 2017 verabschiedet. Es ist eine Reaktion auf die Liberalisierung der Prostitution, die unter Rot-Grün seit 2002 angeschoben wurde. Diese hatte zum Ziel, Prostituierte in Deutschland rechtlich besserzustellen und ihnen das Stigma zu nehmen. Seither ist Prostitution nicht mehr sittenwidrig, der Zugang zur gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung wurde geschaffen. Kritiker beklagen jedoch, dieser Paradigmenwechsel in Sachen Prostitution habe das Gegenteil erreicht und Deutschland habe sich zu einer Art "Bordell Europas" entwickelt. Mit dem Prostituiertenschutzgesetz wollte die Große Koalition 2017 gegensteuern und nachbessern.
Prostituierte müssen sich in der Regel alle zwei Jahre bei den Behörden anmelden. Sind sie unter 21 müssen sie einmal im Jahr vorstellig werden. Das Gesetz sieht auch eine regelmäßige Gesundheitsberatung vor. Auch die Auflagen für Bordelle wurden erhöht. Betreiber brauchen seither eine Genehmigungspflicht. Sogenannte Flatrate-Angebote wurden untersagt und die Kondompflicht für Prostituierte und deren Kunden beim Geschlechtsverkehr eingeführt.
Stephanie Klee beklagt, dass das Gesetz nur weitere Hürden schaffe und keine wirkliche Verbesserung für Prostituierte. Diese müssten sich regelmäßig einer gesundheitlichen Zwangsberatung unterziehen und seien verpflichtet, sich mit persönlichen Daten bei einer Behörde zu registrieren.
"Die Politik tut alles, um die Sexarbeiterinnen von der Straße zu vertreiben."
Stephanie Klee
Die Künstlerin Kerstin Schulz hat die Figuren gestaltet und über mehrere Tage zusammen mit freiwilligen Passanten die Wagen und den Platz mit Preisschildern etikettiert. Auch das: Schwarmkunst.Bild: Timo Stein
Klee arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Prostituierte. Sie hat schon auf der Straße, in SM-Studios und auch im Laufhaus praktiziert. Heute hat sich die 55-Jährige auf die sogenannte Sexualassistenz spezialisiert. Sie bietet Männern und Frauen in Seniorenheimen sexuelle Dienstleistungen an, auch Demenzkranke gehören zu ihren Kunden. Wenn Herr Müller im Altenheim nachts wiederholt im Zimmer seiner Nachbarin steht, Heimleitung und auch die Kinder ratlos sind, dann ruft das Seniorenheim bei Stephanie Klee an. "Dann komme ich und mache Sex", sagt sie.
Kritik kommt von einer SPD-Frau
Leni Breymaier kann der Wohnwagen-Aktion nichts abgewinnen. Die SPD-Bundestagsabgeordnete und Frauenpolitikerin setzt sich für das sogenannte "nordische Modell" nach schwedischem Vorbild ein. Heißt: Sexkauf verbieten. Nicht aber die Prostituierten, sondern die Freier bestrafen. "Diese Frauen", sagt sie, "die vorm Hauptbahnhof stehen, die sind doch nicht repräsentativ. Wessen Interessen vertreten sie? Die der Frauen in der Prostitution oder die der Bordellbetreiber?" Der Interessensverband, dem Stephanie Klee vorsitzt, vertrete ganz sicher nicht die Interessen der allermeisten Prostituierten, die eben nicht aus Deutschland kommen und das nicht freiwillig machen, sagt Breymaier.
"Ich glaube nicht, dass da die rumänische Zwangsprostituierte vor dem Berliner Hauptbahnhof steht und über ihre Arbeitsbedingungen aufklärt."
Leni Breymaier
Auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof ist keine osteuropäische Prostituierte zu sehen. Dafür aber sitzt die 36-Jährige Rhea im orange-etikettierten VW-Bulli. Sie ist nur kurz für eine Kollegin eingesprungen, die gerade Pause macht. Rhea arbeitet erst seit einem guten Jahr als Prostituierte. Als "Independent Escort", wie sie es nennt. Sie habe sich relativ spät dazu entschieden, weil sie immer ein ungeklärtes Verhältnis zu sich und ihrem Körper gehabt habe. Hätte sie früher begonnen, hätte es ihr psychisch geschadet. Heute sei das anders. Sagt sie.
Rhea ist Autistin. Die Distanz zu sich selbst und permanente Depressionen gehörten für sie zum Alltag. Sie hat sich ihr Leben lang gefragt, was mit ihr los sei. "Ich dachte immer, wenn ich mich genug anstrenge, dann werde ich normal. Heute weiß ich, ich bin normal." Auch dank der Sexarbeit, sagt sie. Rhea hat die Schule in der elften Klasse abgebrochen. Auch danach sei sie immer an den Strukturen gescheitert. Lange hielt sie es nirgends aus. "Dauerhaft unter Menschen zu sein, strengt mich an. Ich brauche Pausen." Eine "normale" Arbeit war nicht möglich, sagt sie. Die Prostitution verschaffe ihr soziale Teilhabe. Auch habe sie einen besseren Zugang zu sich und ihrem Körper gefunden. Es falle ihr jetzt leichter, Grenzen zu setzen. Leichter als im Privatleben, sagt Rhea. Die Entscheidung für die Prostitution hat auch etwas mit ihrer Krankheit zu tun. Denn der Kontakt mit Menschen war immer mit Anstrengung verbunden. "Ich mag und mochte Menschen, auch das Körperliche, den Sex. So richtig hatte ich selbst aber nichts davon. Der Kontakt entzog mir jedes Mal Energie." Also hat sie sich irgendwann gesagt: "Dann kann ich auch Geld dafür nehmen."
Rhea bezieht Hartz IV. Durch diese Absicherung habe sie nicht den Druck, den andere hätten. Als ALG-II-Empfängerin darf sie 100 Euro dazuverdienen. Alles, was sie darüber hinaus durch die Prostitution verdient, geht größtenteils zurück an den Staat.
Was Rhea an der Prostitution fasziniert, ist vor allem die Dankbarkeit der Freier, sagt sie. Dieses Ausgehungertsein nach Intimität. Nach Berührungen. Die Reaktionen der Kunden seien teilweise überwältigend im Vergleich zu dem, was sie privat an Reaktionen von ihren Sexpartnern kannte.
"So angeguckt, wie von einigen Kunden, wurde ich privat noch nicht."
Rhea
Rhea hat maximal drei Kunden am Tag. Und sie weiß auch, dass sie noch relativ privilegiert ist. Kolleginnen, die wirtschaftlich von der Prostitution abhängig seien, hätten ein Problem, sagt sie. "Vor allem migrantische Kollegen, die dann zusätzlich auch noch ihre Familie ernähren müssen. Die können schlecht ablehnen", sagt sie.
"Wir finden in der Prostitution hauptsächlich Frauen aus Osteuropa und aus Afrika", kritisiert die SPD-Abgeordnete Breymaier. Viele würden unter falschen Voraussetzungen nach Deutschland gelockt, sagt sie. "Die Mädchen landen dann in Bordellen, in denen sie von morgens um elf bis nachts um vier Uhr von 20, 30 Männern für billiges Geld benutzt werden. Und daran gehen sie dann zu Grunde." Durch die Liberalisierung der Prostitution Anfang des Jahrtausends habe sich der Markt gravierend verändert.
"Die Liberalisierung war zwar gut gemeint, aber falsch. Aus heutiger Sicht war das ein Fehler."
Leni Breymaier, SPD
Breymaier ist zuversichtlich, dass sich gerade etwas verschiebt. Auch in ihrer Partei. Zwar gibt es in der SPD keine offizielle Beschlusslage zum nordischen Modell. "Aber die SPD ist auf dem Weg." Breymaiers Ziel bleibt das Verbot. "Wir brauchen einen anderen Umgang mit Prostitution, mit Sexualität, eine andere Kultur. Da geht echt was kaputt."
Bild: Timo Stein
Das Prostituiertenschutzgesetz geht der Abgeordneten im Grunde nicht weit genug. Weil es von seiner Grundausrichtung von Frauen ausgehe, die das freiwillig und selbstbestimmt machten. "Aber wir haben es mit einer Szene zu tun, für die unser Prostituiertenschutzgesetz ein Wattebäuschen ist, mit dem man da wirft", sagt sie.
Die Straßenprostituierte Nicole kritisiert die Politik
Für Nicole Schulze ist das Wattebäuschen Prostituiertenschutzgesetz ein echtes Problem. Die 39-Jährige ist seit 16 Jahren Straßenprostituierte und steht mit ihrem Wohnwagen auf Parkplätzen an der Autobahn in der Eiffel und rund um die Mosel. Sie würde gerne eine Kollegin mitnehmen. Auch der Sicherheit wegen. "Wenn ich aber eine mitnehme, dann gelte ich direkt als Betreiberin und muss mit Auflagen rechnen. Wo ist da der Schutz für mich?", kritisiert sie. Das Prostituiertenschutzgesetz ist für Nicole eine Mogelpackung. Durch die Auflagen werde es ihr und ihren Kolleginnen unnötig schwer gemacht.
Nicole Schulz: "Der Straßenstrich ist im Vergleich zum Bordell eher die schnelle Nummer."Bild: Timo Stein
In die Prostitution gerät Schulze 2003 aus Geldnot. Ihr Mann ist Spieler, sie trennt sich, nimmt seine Schulden mit. Die Prostitution ist ihr Weg, selbständig Geld zu verdienen. "Ich habe kein Problem damit, Sex mit fremden Männern zu haben", sagt Nicole. An ihr erstes Mal erinnert sie sich genau. Der Freier verlangte Oralverkehr. "Das hat keine fünf Minuten gedauert." Dafür bekommt sie 30 Euro. "Da hab‘ ich gedacht, kann man machen." Und macht es bis heute. Schulz arbeitet viele Jahre in sogenannten Verrichtungsboxen in Köln.
2014 kehrt sie dann zurück in ihre Heimat Trier. Dort gibt es keinen Straßenstrich. Also kauft sie sich einen Wohnwagen. An guten Tagen klopfen bis zu fünf Kunden an ihre Wohnwagentür. "Es kommt aber auch mal keiner", sagt sie. Und länger als 30 Minuten bleibt bei ihr in der Regel niemand. "Der Straßenstrich ist im Vergleich zum Bordell eher die schnelle Nummer."
Um am Wohnwagen-Protest vor dem Hauptbahnhof in Berlin teilzunehmen, hat sie extra den weiten Weg aus Trier auf sich genommen. Auch sie will aufklären, sagt sie. Das Ansehen der Straßenprostituierten verbessern. "Wir werden immer als die letzte Station hingestellt. Das sind wir nicht."
Schulze sagt, dass ihr der Verkauf ihres Körpers Spaß mache. "Ich bin frei", sagt sie. Den Job will sie bis zu ihrer Rente machen. "Das ist auch völlig okay so."
Berlin. 2019.Bild: watson