Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow kündigte an, die Corona-Maßnahmen größtenteils aufheben zu wollen. Stattdessen setzt er auf die Freiwilligkeit der Menschen. Ein gefährlicher Weg mahnen Experten, denn das Virus ist noch nicht unter Kontrolle. Und als lieferten diese Überlegungen aktuell nicht bereits genug Zündstoff, startete die "Bild" auch noch eine Kampagne gegen den führenden Virologen der Charité, Christian Drosten. "Das ist kein guter Stil", kritisiert Virologe Martin Stürmer bei "Markus Lanz".
Die Art und Weise wie mit Christian Drosten derzeit umgegangen wird, sei für keinen Wissenschaftler gut und richtig, sagt er in der Sendung. "Wir sind Wissenschaftler. Wir machen unseren Job und ich denke, wir machen ihn sehr gut", meint Stürmer. Doch man könne eben keine Wunder erwarten, denn man kenne das Virus erst seit wenigen Monaten. Die derzeit kritisierte Studie von Drosten, der die Viruslast bei Kindern untersucht hatte, nimmt er in Schutz. "Die Aussage, die er da getroffen hat, ist immer noch absolut richtig. Wenn, dann kann man über die Nuancen streiten", meint Stürmer und kritisiert weiter den generellen Umgang mit den Wissenschaftlern:
Denn die Virologen sind nicht für die Verordnungen verantwortlich, sondern die Politik. Ihre einzige Verantwortung sei, wie Stürmer sagt, die wissenschaftliche Erkenntnis. Auch SPD-Politiker Ralf Stegner stimmt ihm zu. Er ist der Meinung, dass die Wissenschaft gerade etwas erlebt, was sonst eher der Politik vorbehalten ist, denn sie werden öffentlich von allen Seiten angegangen – nicht nur von Rechtsextremen oder Verschwörungstheoretikern. Er appelliert, man müsse der Wissenschaft ihre Zeit lassen.
Markus Lanz zeigt sich in der Gesprächsrunde schockiert von dem Hass, der den Wissenschaftlern, aber auch einigen Politkern derzeit entgegengebracht wird – und sogar bis zu Morddrohungen reicht. Damit kennt sich auch Stegner aus. Er habe ebenfalls gerade erst Morddrohungen erhalten – aus rechtsradikalen Kreisen, wie er vermutet.
Und während sich die einen mit Drohungen konfrontiert sehen, plant Bodo Ramelow in Thüringen das Zurückfahren der Corona-Maßnahmen. Ob man jetzt bereits zum alten Leben zurückkehren könne, wollte Lanz deshalb von Virologe Stürmer wissen. Aber der hält davon wenig. "Wir sind auf ganz, ganz dünnem Eis. Wir sehen ja jetzt erst, was die Lockerungen von vor 14 Tagen bewirken", mahnt er. Auf dieser dünnen Basis eine so komplette Zurückführungen der Maßnahmen aufzubauen, "finde ich sehr bedenklich". "Wir sind noch nicht so weit", die Maßnahmen so sehr zurückzufahren, wie es Ramelow vorhat. "Wir sind nicht auf der sicheren Seite", sagt er. Denn man dürfe nicht vergessen, dass es Deutschland nur aufgrund der durchgeführten und schnell getroffenen Maßnahmen so gut gehe. In anderen Ländern sehe das ganz anders aus.
Dass die Pandemie noch lange nicht vorbei sei, zeigten außerdem die Infektionen in einem Restaurant in Leer und bei einem Gottesdienst in Hessen. Vor allem letzterer Fall würde auch nochmal verdeutlichen, welche Gefahr von Aerosolen ausgehe – von der Übertragung des Virus über die Luft. In der Kirche in Hessen sei zwar der Mindestabstand eingehalten worden, aber dort gebe es keine Mundschutzpflicht während des Gottesdienstes und es wurde dementsprechend auch keiner getragen – zudem sang die Gemeinde. Dieser Fall zeige, wie wichtig eine gute Belüftung sei, so Stürmer.
Zuerst sei das Thema Aerosole etwas beiseite geschoben worden, sagt Stürmer, aber nun gerate das Problem immer mehr in den Fokus. Angesichts dessen ist es möglicherweise doppelt bedenklich, bei der Eindämmung der Pandemie und den Schutzmaßnahmen auf Freiwilligkeit zu setzen, wie es Ramelow vorhat. Er hat den Schutz vor dem Coronavirus kürzlich mit dem Schutz vor HIV verglichen, denn davor könne man sich ja auch selbst schützen. Ein Vergleich, der vor allem Virologe Stürmer, einem der führenden HIV-Forscher, sprachlos macht, wie er auf Nachfrage von Lanz sagt.
Er meint, bei HIV wüssten die Menschen sehr genau, wie man sich infizieren könne: Es ist eine sexuell übertragbare Krankheit. Dementsprechend habe das mit dem klassischen Alltagsleben wie zur Schule gehen oder einzukaufen nichts zu tun. "Das ist eine Verhaltensgeschichte." Das Coronavirus sei im Gegensatz zum HI-Virus über die Luft übertragbar. Es könne einen überall erwischen.
Da hat man als Individuum ganz andere Schutzmöglichkeiten, mahnt er und nennt zur Veranschaulichung drastische Maßnahmen:
Stürmer macht weiter sehr deutlich: "Das ist etwas anderes als HIV. Ich finde, der Vergleich hinkt gewaltig." Deshalb plädiert er dafür, weiter auf Verbote zu setzen, als nur auf gutgemeinte Empfehlung – vor allem, wenn es um das Tragen von Masken oder Abstandsregeln geht.
(jei)